Eine Nacht in Turkestan

Der 1. Weltkrieg (1) - Kaiser Franz Joseph und der 1. Weltkrieg
Der 1. Weltkrieg (1) - Kaiser Franz Joseph und der 1. Weltkrieg(c) ORF
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Erster Weltkrieg. Etwa 200.000 Habsburger-Soldaten waren nicht in Sibirien, sondern in Turkestan, östlich des Kaspischen Meers, gefangen.

Das Bild von Soldaten, die in russische oder später sowjetische Kriegsgefangenschaft geraten sind, ist heute beinah einzementiert: „Fast jeder denkt an Sibirien“, sagt der Wiener Historiker Peter Felch. Er war jahrelang Mitarbeiter internationaler Organisationen in Zentralasien und hat sich mit den interethnischen Beziehungen zwischen den Völkern beschäftigt, die dort leben. Erst das machte ihn auf das Schicksal von etwa 200.000 österreichisch-ungarischen Soldaten des Ersten Weltkriegs aufmerksam, die in den rund 50Lagern Turkestans festgehalten waren.

Turkestan war ein Territorium, das die russischen Zaren erst 50 Jahre vor dem globalen Weltenbrand erobert und in ihr Reich eingliedert hatten. Heute besteht das Gebiet aus fünf unabhängigen Staaten: Usbekistan, Kirgistan, Tadschikistan, Turkmenistan und Kasachstan. Die Gefangenen bauten Hochgebirgsstraßen in Südkirgistan oder katholische Kirchen, etwa in der Stadt Samarqand in Usbekistan – zur selben Zeit, als russische Kriegsgefangene in den Habsburger-Ländern ähnliche Arbeiten verrichteten und etwa die Schlossbergstiege (früher „Russenstiege“) von Graz in den Fels hämmerten.

Diese Bauten haben Bestand und werden noch benutzt: „Es liegt mir viel daran, dass man in Österreich und in Zentralasien von diesen Kriegsgefangenen erfährt“, sagt Felch. Daher plant er Bücher, Ausstellungen, eine Website, Reisen zu den ehemaligen Lagerorten und eine filmische Dokumentation. „Bisher wissen höchstens Historiker, die sich speziell damit befassen, über das Schicksal dieser immerhin zehn Prozent aller in Russland gefangenen Soldaten Bescheid“, sagt er.

Diese wurden nach der russischen Revolution 1917 zu freien Bürgern erklärt. Nicht immer zu ihrem Vorteil: Von nun an mussten sie sich selbst durchschlagen. Epidemien und Hungersnöte rafften sie zu Tausenden dahin. Die Eisenbahnlinien waren unterbrochen, eine Heimkehr lang unmöglich, sodass viele bis in die 1920er-Jahre blieben. Bis dahin kämpften manche für die Rote Armee, andere gründeten Betriebe oder waren als Lehrer, Handwerker, Künstler oder Techniker tätig. Einige gründeten Familien.

Die Ortsnamen Samarqand und Taschkent waren damals in Österreich gut bekannt. Die Tageszeitungen berichteten über den Verbleib der Gefangenen. Der Bundesverband ehemaliger österreichischer Kriegsgefangener veranstaltete jährlich Bälle in Wien, um Geld für die Hinterbliebenen zu sammeln. Die Ballgäste erschienen in russischer Tracht und tanzten unter dem klingenden Motto „Eine Nacht in Turkestan“. (por)

("Die Presse", Print-Ausgabe, 04.07.2015)

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