Vom "Dritten Reich" nach Indien

SCHROeDINGERS KATZE - FOTOGRAFIERT MIT SPUKHAFTER FERNWIRKUNG
SCHROeDINGERS KATZE - FOTOGRAFIERT MIT SPUKHAFTER FERNWIRKUNG(c) APA/IQOQI
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Zweiter Weltkrieg. Hunderttausende Österreicher und Deutsche flohen vor dem Nationalsozialismus: Tausende von ihnen nach Indien. Die Fluchtroute verlief über das Mittelmeer.

Max Born und Erwin Schrödinger haben einiges gemeinsam: Beide bekamen den Nobelpreis für Physik verliehen. Schrödinger erhielt ihn 1933 für die Entdeckung neuer produktiver Formen der Atomtheorie. Er gilt damit als einer der Begründer der Quantenmechanik. Born beschäftigte sich zeitlebens mit dieser neuen physikalischen Theorie und wurde 21 Jahre nach Schrödinger ebenfalls mit dem Nobelpreis ausgezeichnet. Beide waren deutschsprachige Wissenschaftler von Weltruf. Beide beeinflussten das Denken und die Technologie des 20. Jahrhunderts maßgeblich. Die Schrödinger-Gleichung oder Schrödingers Katze spornten Mathematiker wie Philosophen gleichermaßen an. Born und seine Doktoranden, unter ihnen etwa Robert Oppenheimer, begründeten das Atomzeitalter. Beide mussten vor den Nazis fliehen – Schrödinger aus Graz, Born aus Göttingen. Beide beantragten ein Visum in Indien.

Ihr indisches Gastspiel war kurz, beziehungsweise abgesagt: „Born war bereits in Indien, bekam aber wegen einer Intrige keine Fixanstellung. Schrödinger hatte schon eine Anstellung in Allahabad, in Nordindien, in der Tasche, durfte aber nicht mehr auf die bereits stark torpedierten Schiffe. Schrödinger ging dann nach Irland, Born nach Schottland“, sagt Margit Franz vom Institut für Geschichte der Uni Graz. Das Beispiel der Wissenschaftler zeigt, dass der Subkontinent für hoch qualifizierte Leute anziehend war. In Franz' neuem Buch „Gateway India“ (Verlag Clio-Graz) geht es um diese Menschen: Ärzte, Zahntechniker, Architekten, Techniker, Ingenieure, Bautechniker und eben Wissenschaftler suchten ihre letzte Zuflucht vor dem Nationalsozialismus in Indien.

Der Westen schloss seine Tore

Indien war deshalb für viele Vertriebene attraktiv, weil sich westliche Länder – spätestens seit dem Anschluss Österreichs an Deutschland 1938 – nicht dazu durchringen konnten, mehr Flüchtlinge aufzunehmen: „Das Gegenteil ist passiert. Man hat die Grenzen zugemacht, indem man entweder Visa wieder einführte, oder die Visazahlen nach unten setzte“, sagt Franz. Viele kamen daher nicht mehr nach Großbritannien oder Australien, in die USA oder nach Frankreich, das bis 1940 noch ein Haupt-Exilland war. Diese Länder machten die Grenzen dicht und exotischere Destinationen kamen auf den Fluchtplan. Indien nahm, nach Palästina und Shanghai, die meisten Asylanten in Asien auf – nach Franz' Schätzungen fanden etwa 4000 bis 5000 Menschen eine temporäre Heimat auf dem Subkontinent.

Die wichtigsten Routen führten über das Mittelmeer – in umgekehrter Richtung der gegenwärtigen Flüchtlingsströme. Fliegen war zu teuer, Passagierschiffe ebenso: Die Exilanten fuhren daher oft auf billigen Frachtschiffen mit. Von den italienischen und französischen Häfen ging es über das Mittelmeer zum Suezkanal und weiter zum Roten Meer und nach Aden – heute eine Geisterstadt und trauriger Kriegsschauplatz zwischen Rebellen und Regierungstruppen im Jemen – und schließlich zu den Städten des Subkontinents: etwa nach Karatschi, der größten Stadt Pakistans (damals noch Teil des kolonialen Britisch-Indiens), nach Bombay, der wichtigsten Hafenstadt Indiens, oder nach Kalkutta, der britisch-indischen Hauptstadt in Westbengalen.

In Indien gab es keinen Antisemitismus

Die zirka 5000 deutschsprachigen Asylanten fielen in der Masse von Indern nicht groß auf. Indien hatte damals schon 400 Millionen Einwohner. „Was aber auffällt, ist, dass es keinen Antisemitismus gegeben hat“, sagt Franz. Die vielen jüdischen Flüchtlinge konnten ihre Berufe meist völlig frei ausüben. Sie waren in höchsten indischen Kreisen sogar gern gesehene Innovatoren. Die indische Befreiungsbewegung, allen voran Mahatma Gandhi und der spätere erste Premier des entkolonialisierten Landes, Jawaharlal Nehru, versuchten explizit Techniker und Mediziner nach Indien zu lotsen. So kam etwa der Vertriebene Wiener Radiologe und Universitätsdozent Georg Politzer nach Indien. Er fand am Maharadschahof in Patiala in Nordwestindien eine neue Heimat und eine offizielle Anstellung.

Politzer schulte Ärzte vor Ort in den Gebrauch von Röntgengeräten ein. Nicht nur das: Er durfte seine gesamte Familie nach Indien nachholen und lebte mit ihnen direkt am Maharadschahof. Der Wiener machte seine Sache so gut, dass er zum First Medical Officer of Patiala State, also zum Gesundheitsminister, ernannt wurde.

Gandhi, Nehru und die Maharadschas brauchten die Spezialisten, um das Land zu modernisieren und damit die Unabhängigkeit von Großbritannien zu erleichtern. Dabei kooperierte Indien auch mit Deutschland, frei nach dem Motto: „Wir kämpfen gegen die Kolonialmacht, indem wir die Feinde unseres Feindes zu Freunden machen“, sagt Franz. Aber Indien unterschied stets zwischen Nationalsozialisten und eigentlichen Flüchtlingen vor dem Terror des Dritten Reiches, was ihnen hoch anzurechnen ist. Eine Unterscheidung zwischen Asylanten und Extremisten zu machen, war und ist sinnvoll.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 04.07.2015)

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