Die Klugheit der Schlangen

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In der Bibel bringen sie erst das Unheil, dann das Heil, das müssen Theologen klären. Serpentologen immerhin wissen jetzt, wo ihre Klientel herkommt.

Klug sollen sie sein „wie die Schlangen“, rät Jesus den Jüngern (Math. 10, 16), und man wundert sich schon etwas, dass er just dieses Tier wählt. Aber wenn man ein paar hundert Seiten zurückblättert in der Schrift, kommt es noch toller: Jahwe hat wieder einmal Ärger mit den Seinen, er straft sie, mit „feurigen Schlangen, die bissen das Volk, dass viele starben“ (4. Mose 21, 6). „Und Mose bat für das Volk. Da sprach der Herr zu Mose: Mache eine eherne Schlange und richte sie an einer Stange hoch auf. Wer gebissen ist und sieht sie an, soll leben.“ Das Neue Testament nimmt das auf: „Wie Mose in der Wüste die Schlange erhöht hat, so muss des Menschen Sohn erhöht werden, auf dass alle, die an ihn glauben, das ewige Leben haben“ (Johannes 3, 14).

Erhöht? An einer Stange mit Querbalken! Man muss sie nur ansehen, dann geben sie Leben, die Schlange am Balken, Jesus am Kreuz, im Mittelalter standen beide in manchen Kirchen Seite an Seite. Was haben sie miteinander zu schaffen? Das braucht hohen theologischen Sachverstand, nur den allerersten Auftritt der Schlange können auch Laien entschlüsseln. Und zwar dahin, dass sie, die Schlange, den Menschen zum Menschen macht: Vor dem Biss in die Frucht lebt er in der Unschuld eines Kindes, das nichts von Sex weiß und von Moral, dann erkennen Adam und Eva einander und sich selbst, und dann müssen sie hinaus zum Gebären unter Schmerzen und zum Arbeiten im Schweiße des Angesichts. Hinaus also in die Auseinandersetzung mit dem Körper und der Welt: in die Bildung.

Hat die Bibel recht? 2004 verfiel Anthropologin Lyne Isbell (UC Davis) auf eine ähnliche Idee: Nagetiere haben die Augen seitlich am Kopf, bei Primaten – wir gehören dazu – wanderten sie nach vorn. Was sollte gesehen werden? Manche setzen auf Futter, aber das ist auch bei Nagern vorn. Deshalb verfiel Isbell auf Schlangen: Gegen deren Gifte haben manche Nager sich mit Immunität gewappnet, Primaten setzten auf die Augen, die wurden geschärft und tasteten die Umwelt in Bewegungsrichtung ab, zudem meldeten sie direkt an ein postuliertes Hirnzentrum zum Erkennen von Gefahren, das „fear module“. Das wieder sorgte für die Vergrößerung des Gehirns (Journal of Human Evolution 51, S.1.).

Über diese „Snake Detection Theory“ wurden viele Köpfe geschüttelt, Hirnforscher Hisao Nishijo (University of Toyoma) nahm sie ernst und lud Isbell in sein Labor: Dort machte er – mit implantierten Elektroden – messbar, was in Gehirnen von Makaken vorgeht, wenn man ihnen Bilder zeigt, von Artgenossen, von Schlangen, von geometrischen Mustern. Immer wurde eine Region aktiv – das Pulvinar, es ist Teil des Thalamus, in dem entschieden wird, welche Information wichtig ist –, aber die Reaktionen fielen in Quantität und Qualität höchst unterschiedlich aus: Beim Anblick der Schlangen wurden viel mehr Zellen aktiv, und sie wurden es viel rascher. Indirekt zeigt sich das auch in der Natur: Auf Madagaskar gibt es keine Schlangen – und die dortigen Primaten, die Lemuren, haben kein Pulvinar (Pnas 110, S.19000).


Sit and wait. Ja, wie gefährlich sind die Schlangen denn? Es gibt nur grobe Schätzungen, 20.000 bis 125.000 Menschen sterben jährlich an ihren Bissen. Mancher ist auch schon verschwunden, in einer Boa oder einem Python, und zwar mit Haut und Haar. Schlangen zerteilen Beute nicht, sie schlingen sie auf einen Bissen in sich hinein, ganz gleich, ob sie höchst agil mit Giften auf die Jagd gehen oder sich als Würger kaum bewegen, sit and wait praktizieren. Das braucht Geduld, man darf sie zur Klugheit zählen, ein Python kann bis zu einem Jahr irgendwo sitzen und warten. Aber wenn dann etwas vorbeikommt, verschlingt er Beute in der Größe seines eigenen Körpers, er kann sich kaum mehr rühren.

Im Inneren hingegen kommt er auf Touren, der Darm wird über Nacht drei Mal so groß, das Herz legt 40 Prozent zu, siebenmal mehr Sauerstoff geht ins Blut, insgesamt schnellt der Stoffwechsel um den Faktor 44 nach oben: Die Regulation des Körpers kann man an keinem anderen Tier so gut studieren, deshalb haben die Physiologen Jared Diamond und Stephen Secor den Python 1998 als Modellorganismus in Labors eingeführt. Das Multitalent Diamond zog weiter, Secor blieb beim Python und erkundete zuletzt, wie das Herz zum raschen Ausdehnen gebracht und zugleich vor diesem Stress geschützt wird, es läuft über eine Mixtur von Fettsäuren und Antioxidantien im Blut, Secor will das für die Medizin nutzbar machen (Science 334, S.528).

Andere wollen das mit den Giften von Schlangen tun, in denen steckt auch Klugheit bzw. eine „teuflisch elegante Strategie“. So nannte Bryan Fry (Melbourne), was er an Proteinen der Gifte bemerkte: Viele sind leichte Abwandlungen von Proteinen, die in Schlangen eine lebenswichtige Funktion haben, etwa Muskeln kontrollieren. In der giftigen Variante lähmen sie (Genome Research 15, S.403). Ähnliches ist Freek Vonk (Leiden) bei der Königskobra aufgefallen: 20 Gene helfen beim Mischen des Gifts – aus 73 Peptiden/Proteinen –, eines ist eng verwandt mit einem, das Schlangen (und Menschen) in der Bauspeicheldrüse beim Verdauen hilft. Es wurde leicht mutiert, nun sorgt es dafür, dass es etwas zu verdauen gibt (Pnas 110, S.20651).

Seit wann? Giftschlangen kamen spät, vor 15 Millionen Jahren, Konstriktoren waren früher da, vor 100 Millionen Jahren. Woher? Im 19. Jahrhundert vermutete man, Schlangen hätten sich auf bzw. in der Erde aus Eidechsen entwickelt. Das erregte Widerspruch: Aus dem Wasser bzw. von Mosasauroiden, ausgestorbenen Reptilien, würden sie stammen. Das brachte Zischen unter die Serpentologen – ihre Zunft ist kaum so groß wie die ihrer Klientel, die hat 3400 Arten –, es zog sich hin, nun hat Allison Hsiang (Yale) an Genen und Fossilien alles rekonstruiert (BMC Evolutionary Biology 19.5.): Die ersten Schlangen waren vor 128 Millionen Jahren als nächtliche Jäger im warmen Süden unterwegs, sie stammten von Eidechsen, hatten noch Hinterbeine.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 12.07.2015)

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