Soziologen: Nationale Identität bleibt wichtig

(c) AP (Mikhail Metzel)
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Amerikaner sind stolz auf die Weltpolitik, Österreicher auf die Wirtschaft; Schweden lieben Gleichheit: Soziologen erforschen die Unterschiede zwischen Nationen.

Es scheint, dass die Hochblüte des Nationalstaats vorbei ist. Die Globalisierung hat zu einer nie da gewesenen Verschränkung der Wirtschaft und der Gesellschaften geführt – daher meinen viele Experten, dass Begriffe wie Staat oder Nation immer unwichtiger werden. Diese Ansicht ist aber falsch, sagt Max Haller, Soziologe an der Universität Graz: „Nationale Identitäten und Nationalstolz bleiben zentrale Komponenten der Identität der Menschen in modernen Gesellschaften.“

Er kann das auch eindrucksvoll belegen – mit Daten, die im Rahmen des ISSP („International Social Survey Program“) weltweit erhoben wurden. Das ist eine Vereinigung von Soziologen aus 44 Ländern, die in der Vorwoche in der Akademie der Wissenschaften (ÖAW) in Wien ihr 25-jähriges Bestehen feierte.

Eine dieser ISSP-Studien – die grundsätzlich in allen Ländern gleichzeitig durchgeführt werden – ergab, dass der eigene Staat mit Abstand als das wichtigste Identifikationsmerkmal angesehen wird: 88 Prozent aller Befragten fühlen sich eng oder sehr eng mit ihm verbunden. Weit weniger wichtig ist der Ort bzw. die Region, in der man lebt. Daran ändert sich auch im Zeitablauf in praktisch allen Ländern nichts: Bei allen Untersuchungswellen bleibt der Staat am wichtigsten.

Europa nimmt dabei in gewisser Weise ein Sonderstellung ein: Mit der europäischen Einigung wächst die europäische Identität. Allerdings: „Zwischen nationaler und europäischer Identität gibt es keinen Gegensatz, sondern sogar eine positive Beziehung“, sagt der Soziologe: „Wer sich einem Land stark verbunden fühlt, hat auch zu Europa eine positive Einstellung.“ Die Ungarn beispielsweise zeigen die stärkste Verbundenheit mit ihrem Land, aber auch mit Europa. Die Russen oder Briten dagegen sind sowohl ihrem Land wie auch Europa nur schwach verbunden. Haller: „Bürger der EU-Mitgliedstaaten können zwei Identitäten haben: eine nationale und eine europäische.“


Hoher Nationalstolz. Der Nationalstolz ist allerorts sehr hoch: 20 Prozent der Befragten sind „sehr stolz“ und 42 Prozent „stolz“ auf ihr Land. Dabei gibt es freilich deutliche Unterschiede zwischen den Nationen – die sich, so Haller, leicht erklären lassen. In großen Nationen spielt der weltpolitische Einfluss eine große Rolle: So sind in den USA 78 Prozent der Bürger stolz auf ihren Einfluss, in kleineren Staaten sind es nur an die 25 Prozent. Österreich liegt mit 53 Prozent in der Mitte.

Ganz weit oben ist Österreich hingegen beim Stolz auf die wirtschaftliche Entwicklung: Mit 79 Prozent liegt es weltweit unter den Top fünf und ist damit das stolzeste Land in Europa. Abgeschlagen sind dabei die osteuropäischen Länder. Die Soziologen kennen auch noch eine Reihe anderer Ursachen für hohen Nationalstolz – die vor allem für kleinere Staaten eine große Rolle spielen: etwa wissenschaftliche Errungenschaften, kulturelle Leistungen, Geschichte oder Sport. Letzterer ist besonders interessant: Satte 81 Prozent stimmen der Aussage zu, dass man stolz auf sportliche Erfolge von Landsleuten sei.

Der Nationalstolz kann freilich auch überschießen und in Chauvinismus umschlagen: Nicht weniger als ein Drittel der Befragten ist der Meinung, dass die Welt ein besserer Platz wäre, wenn alle Staaten so wie das eigene Land wären. Das Gegenteil ist etwa in Schweden der Fall: Dort ist der Nationalstolz gering – und zwar in den Augen der Soziologen deshalb, weil die Schweden Nationalstolz mit Extremismus und Rassismus assoziieren.

Sozialforscher unterscheiden häufig zwischen „Staatsnation“ und „Ethnonation“. Bei Ersterer spielen politische Faktoren wie die Staatsbürgerschaft die entscheidende Rolle, bei Letzterer kulturelle Faktoren wie Sprache oder Religion. Unterschiede gibt es in der Tat: Während beispielsweise für 66 Prozent der US-Amerikaner das Christentum ein wichtiges Charakteristikum der Nation ist, ist das in Frankreich nur bei 17 Prozent der Befragten der Fall. Und: Für 66 Prozent der israelischen Juden ist die Religion sehr wichtig für die nationale Identität, während das nur für 11 Prozent der in Israel lebenden Araber gilt. Bei den meisten Kriterien wie Staatsbürgerschaft, Respekt vor den politischen Institutionen oder der Sprache gibt es hingegen praktisch keinen Unterschied zwischen angeblichen Staats- und Ethnonationen. Haller: „Diese oft angeführte Unterscheidung existiert in den Köpfen der Menschen nicht. Vielmehr ist in allen modernen Nationen sowohl der politische als auch der kulturelle Aspekt sehr wichtig.“

Hand in Hand mit den verschiedenen nationalen Identitäten gehen viele gesellschaftliche Unterschiede – die ebenfalls im Rahmen des ISSP untersucht werden. So gibt es etwa beim Empfinden von Ungleichheit immense Unterschiede. In ärmeren Ländern ist die als legitim betrachtete Streuung von Einkommen deutlich höher als in reicheren Ländern. Schweden finden, dass die Minimaleinkommen nur um einen geringen Wert schwanken sollten. Die höchste Streuung akzeptieren die Russen – Österreich und die USA liegen dazwischen. Die Soziologen vermuten hinter diesen Unterschieden nicht nur kulturelle Faktoren, sondern auch eine Entwicklungstendenz: Demnach führt wirtschaftliche Entwicklung zu einer egalitäreren Einstellung. Freilich gibt es auch auf den einzelnen wirtschaftlichen Entwicklungsstufen große Unterschiede – nicht alle reicheren Länder haben eine niedrigere Toleranz für Einkommensdifferenzen. Das bedeutet für die Sozialpolitik, dass sie nicht von einem abstrakten, umfassenden Gleichheitsideal ausgehen darf, sondern eher mit relativen Gleichheitsbegriffen operieren muss. Nebenbei bemerkt: Ein gut ausgebautes Sozialsystem ist ein Faktor, auf den die Bürger in vielen Ländern stolz sind.


Gerechter Lohn. Von Land zu Land unterschiedlich sind auch die Vorstellungen darüber, welche Faktoren die Höhe des Lohns bestimmen sollen. In ärmeren Ländern wird typischerweise die Arbeitsleistung als wesentliches Kriterium für den „gerechten Lohn“ angesehen, in reicheren Staaten hingegen die Ausbildung und Verantwortung. Anhand der Transformationsländer in Osteuropa konnte gezeigt werden, dass sich das im Laufe der Zeit ändert: Die Arbeitsleistung tritt gegenüber der Position im Berufsleben zunehmend in den Hintergrund. Interessantes Detail: Wer sozial aufgestiegen ist, ist eher der Ansicht, dass das eigene Einkommen gerecht ist oder dass es sogar höher sein sollte, als es tatsächlich ist.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 10.05.2009)

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