Westtibetischen Kreuzworträtseln auf der Spur

A girl participates in celebrations on the 79th birthday of the Dalai Lama in Kathmandu
A girl participates in celebrations on the 79th birthday of the Dalai Lama in Kathmandu(c) REUTERS
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Tibetologie. Die Geschichte Tibets ist erst marginal erforscht. Zum einen ist der Zugang zu historischen Überresten schwierig, zum anderen weisen erhaltene Fragmente große Lücken auf. Ein Wiener Forscher analysiert dieses Puzzle.

Ngari ist ein Regierungsbezirk im Nordwesten von Tibet und daher Teil der Volksrepublik China. Das Gebiet hat etwa 100.000 Einwohner, verteilt auf einer Fläche von mehr als 300.000 Quadratkilometern, ist also etwa dreieinhalbmal so groß wie Österreich. Der Großteil Ngaris ist eine Wüste, die auf einer durchschnittlichen Höhe von 4500 Metern liegt. Das Land hat wenig zu exportieren. China fördert die wenigen Bodenschätze, genauso wie in Zentraltibet.

Dass dieses Gebiet eine eigenständige Geschichte hat, ist großteils unbekannt. Ngari war im Mittelalter und der frühen Neuzeit nicht nur viel größer als heute – denn es schloss auch Gebiete um Ladakh ein, die im südlichen Indien liegen –, sondern es hatte auch eine völlig andere Bedeutung: „Bis ins 17. Jahrhundert gab es eine westtibetische Königsdynastie, die von Zentraltibet relativ unabhängig blieb“, sagt Kurt Tropper, Tibetologe an der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW). Tropper arbeitet seit 2013 an einem vom Österreichischen Forschungsfonds (FWF) finanzierten Projekt, das historische und religiöse Überreste Ngaris sucht, editiert, ins Englische übersetzt, kommentiert und digitalisiert.

Für die Forscher ist es nicht immer leicht, an Textfragmente oder Wandmalereien Westtibets heranzukommen. Konnten sich die Wissenschaftler in den 1990er-Jahren noch relativ frei durch Tibet bewegen, ist das heute außerhalb von Touristenpfaden schwer möglich: „Ich selbst konnte zuletzt 2010 an die westlichste Grenze Ngaris reisen. Dort war ich in einem Gebiet unterwegs, wo 70 bis 80 Jahre lang kein Ausländer mehr gewesen ist“, sagt Tropper.

Chinas Verhältnis zu Tibet

Schon damals ist immer eine Begleitperson von der Tibetischen Akademie für Sozialwissenschaften aus Lhasa dabei gewesen. Alleine zu reisen war und ist nicht möglich. Zudem kündigte die Akademie in Lhasa 2013 ihre Kooperation mit allen ausländischen Forschungseinrichtungen. „Inzwischen gibt es aber Anzeichen dafür, dass die Zusammenarbeit – insbesondere die gemeinsame Feldforschung – in absehbarer Zukunft wieder aufgenommen werden kann“, sagt Tropper. Generell hängen Kooperationen stark von der häufig wechselnden innen- und außenpolitischen Lage in China ab.

Dabei hatte Westtibet bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts mit Zentralchina sehr wenig Kontakt gehabt. Es hatte wegen der geografischen Lage noch eher Beziehungen in Richtung Nordindien oder nach Nordwestnepal.

Das bestätigen die Inschriften: Es dreht sich alles um die Eliten oder um die buddhistischen Klöster von Ngaris. Grob können die Texte daher in eine historische und eine religiöse Kategorie eingeteilt werden, „wobei sich in der Praxis beides vermischt. Denn in Tibet steht so gut wie alles im Zusammenhang mit dem Buddhismus“, erklärt Tropper.

Die religiösen Texte und Wandmalereien gehen oft auf alte Versionen von kanonischen Schriften zurück. Ihre Bearbeitung helfe der Kunstgeschichte und der Religionswissenschaft. Anspielungen auf Herrscher wiederum ermöglichen eine gründliche Datierung der noch nicht genau bekannten Königsabfolge. Für Tropper ist seine Forschung „wie Kreuzworträtsel lösen oder ein Puzzle zusammenbauen, an dessen Ende erst ein Gesamtbild entsteht“.

LEXIKON

Ngaris (tibetisch: Herrschaftsbereich), auch Tö Ngari (tibetisch: Herrschaftsbereich der höher gelegenen Region), wird in der Regel als Westtibet bezeichnet. Selbst die Täler sind zumeist weit über 4300 Meter hoch.

Zentraltibet mit der Hauptstadt Lhasa liegt im Süden des tibetischen Hochlandes. Damit ist das engere Einflussgebiet der Dalai Lamas, der höchsten buddhistischen Meister Tibets, gemeint. Die Grenzen Tibets waren lange fließend.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 25.07.2015)

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