Das stille Sterben am Boden der Meere

Seestern
Seestern(c) Clemens Fabry
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Durch Überdüngung fehlt den Organismen der lebensnotwendige Sauerstoff. Die Folge: Fische, Seesterne, Muscheln und Garnelen ersticken in kurzer Zeit.

Der eine streckt die Beine in die Höhe in Richtung Sonne. Der andere taucht mit raschen Bewegungen durch das Wasser an die Oberfläche. Ein ganz normaler Badetag an der Adria? Mag sein, jedoch handelt es sich bei der Szene nicht um erholsame Urlaubsaktivitäten von Touristen. Sie beschreibt die letzten verzweifelten Verrenkungen, die bodennahe Meerestiere unternehmen, wenn ihre Lebensbedingungen nicht mehr passen. Dann schwimmen Fische nach oben, die eigentlich am Grund leben. Seesterne wandern auf Felsen oder an Schiffswracks in die Höhe, oder Krebse kommen aus dem Sand und recken ihre Körper nach oben. Die Tiere kämpfen um den letzten Sauerstoff, bevor sie sterben.

Denn der Schmutz raubt dem Meer buchstäblich den Atem. Nicht nur Schwermetalle, Rohöl oder radioaktiver Abfall verunreinigen das Wasser. Die Überdüngung durch Nährstoffe ist ein weiteres Problem. „Vor allem in seichten Küstengewässern kommt alles zusammen“, sagt Michael Stachowitsch vom Department für Limnologie und Bio-Ozeanographie der Uni Wien. Die Überdüngung sei aber die einzige Form der Verschmutzung, die in nur wenigen Stunden und Tagen ganze Ökosysteme kollabieren lassen könne. Viele Mittelmeerländer haben nur mangelhafte Kläranlagen, auch Flüsse transportieren ins Meer, was nicht dorthin gehört.

Plankton „explodiert“ förmlich

Für das pflanzliche Plankton ist das ein gefundenes Fressen: „Die zusätzlichen Nährstoffe lassen die Pflanzen unter Wasser enorm wachsen, sie explodieren fast“, so Stachowitsch. Sterben die Planktonblüten dann nach dem Sommer ab, sinken sie zu Boden und müssen dort abgebaut werden. Das erledigen Bakterien, die selbst Sauerstoff verbrauchen. Am Ende bleibt zu wenig Sauerstoff für alle dort lebenden Organismen. Sie leiden unter der Hypoxie, also dem Sauerstoffmangel, und ersticken.

Lange Hitzeperioden verschärfen die Situation zusätzlich. Ähnlich wie Essig und Öl mischen sich kalte und warme Wasserschichten bei Schönwetter wegen der unterschiedlichen Dichte nicht. Die Tiere in der unteren Wasserschicht sind gefangen wie in einer Glasglocke. Außerdem fördert die warme obere Wasserschicht wiederum das Wachstum von Plankton.

Adria besonders betroffen

Wo das passiert, sterben 90 Prozent der bodennahen Tierwelt in nur wenigen Tagen. Der Forscher spricht von „Todeszonen“. Etwa 500 solcher Zonen, in denen Sauerstoffmangel regelmäßig die Bodentierwelt ausrottet, sind bekannt. Stachowitsch war einer der Ersten, die das an der Adria umfassend dokumentierten. Er war in den 1980er-Jahren für andere Forschungszwecke vor Ort und wurde Zeuge, als ganze Unterwasserlandschaften des Mittelmeeres in kurzer Zeit abstarben. Wo vorher Muscheln waren, hätte es nachher nur mehr leere Schalen gegeben. Urlauber sahen das als riesigen Algenteppich. „Das sterbende Plankton scheidet Schleim aus“, sagt Stachowitsch. Meist merke man an der Wasseroberfläche aber nichts vom biologischen Kollaps, er bleibt in der Tiefe des Meeres unsichtbar verborgen. „Würde am Festland eine Landschaft von mehreren hundert Quadratkilometern absterben, hätte das einen enormen Aufschrei zur Folge“, ist der Forscher überzeugt.

„Die Nordadria ist besonders betroffen, weil sie nirgends tiefer als 50 Meter ist“, sagt auch Martin Zuschin vom Institut für Paläontologie. Dazu kommt, dass sie schon lange vom Menschen beeinflusst wird: Das Mittelmeer wird seit dem Altertum intensiv genutzt. In Nordamerika etwa begann dieser starke menschliche Einfluss erst nach Kolumbus vor rund 500 Jahren.

Was aber passiert genau, wenn Millionen Meerestiere auf einmal dahingerafft werden? Die beiden Forscher haben das in einem vom Österreichischen Wissenschaftsfonds FWF geförderten Projekt drei Jahre lang untersucht. In einem eigens gebauten Würfel aus Plexiglas stellten sie vor der Küste von Piran in 25Metern Tiefe die Krisensituation nach. Dabei wurde die Sauerstoffkonzentration gemessen. Zusätzlich zeichnete eine Kamera die Bewegungen der Tiere am Meeresboden auf.

Für die Wissenschaftler war das Experiment ein zweischneidiges Schwert: Sie mussten den leidenden Tieren zusehen. Dafür ernteten sie auch Kritik. „Wir beeinflussten aber das Ökosystem lediglich in einem Bereich von 50 mal 50 Zentimetern“, sagen sie heute. Ziel sei eine Prognose, was in den Todeszonen bei Sauerstoffmangel auf mehreren hundert bis tausend Quadratkilometern passiert. Man wollte also wissen, wie man dem Sterben entgegenwirken kann.

Stoffwechsel spontan ändern

Nach den Untersuchungen lässt sich nun sagen, wie empfindlich welches Tier reagiert, was also Alarmzeichen für Sauerstoffmangel am Meeresboden sind. „Pilgermuscheln sind sensibel und sterben schnell, andere Muschelarten stellen spontan ihren Stoffwechsel um“, so Zuschin.

Aber lässt sich noch etwas retten, wenn man das veränderte Verhalten von Tieren bereits bemerkt? „Eine schnelle Sofortmaßnahme wäre, Zusatzbelastungen wie das Fischen mit großen Schleppnetzen zu verbieten“, sagt Zuschin. Längerfristig könnte es auch helfen, Flussbegradigungen rückgängig zu machen: „Mit Beton ausgekleidete Kanäle nehmen alles mit. Ufervegetation oder Aulandschaften bilden einen natürlichen Filter“, so Stachowitsch. Ist ein Ökosystem einmal zerstört, lässt es sich aber nur schwer wiederherstellen. Das könne Jahre dauern. Ein kurzer Erholungsurlaub reicht jedenfalls nicht.

LEXIKON

Hypoxie bedeutet in der Ökologie Sauerstoffmangel. Bestimmte Bakterien und einige wirbellose Tiere können auch ohne Sauerstoff, also anaerob, leben.

Als Anoxie bezeichnet man das völlige Fehlen von Sauerstoff.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 22.08.2015)

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