"Es braucht ein maßvolles Ausmaß an Ungleichheit"

Roland Verwiebe
Roland VerwiebeDie Presse
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Der Soziologe Roland Verwiebe leitet beim Europäischen Forum Alpbach einen Arbeitskreis zu den vielen Facetten von Gleichheit und Ungleichheit.

Die Presse: Sie waren in Ostberlin, als die Mauer fiel. Wie haben Sie es erlebt, als plötzlich nichts mehr gleich war?

Roland Verwiebe: Mit einem Schlag gab es das Essen nicht mehr zu kaufen, das man vorher gekauft hat. Die Preise für die Fahrscheine im öffentlichen Nahverkehr haben sich verzwanzigfacht, sie sahen auch anders aus. Die Leute haben angefangen, andere Kleidung zu kaufen – über Nacht. Die Musik, die man hörte, war nicht mehr dieselbe. Nicht nur auf der Ebene des politischen und wirtschaftlichen Systems, auch auf der Ebene des alltäglichen Lebens hat sich so viel verändert. Das war ein ungeheurer Schock für viele. Für mich als 19-Jährigen war es ein Aufbruch in die Zukunft.

Heute ist Ungleichheit einer Ihrer Arbeitsschwerpunkte. Was bedeutet der Begriff für den Soziologen?

Die Soziologie ist in einer Phase begründet, in der die Ungleichheiten in modernen europäischen Wissenschaften sehr stark ausgeprägt waren. Schon frühe Forschungen befassen sich mit Ungleichheit auf dem Arbeitsmarkt, in der Entlohnung, im Bezug auf Arbeitssicherheit, Arbeitsbedingungen. Karl Marx war vielleicht der größte Ungleichheitsforscher des 19. Jahrhunderts.

Stichwort Marxismus. Ist die Idee der Gleichheit nicht ideologisch längst überholt? Hat sich die Soziologie heute davon nicht längst verabschiedet?

Als reine Ideologie kann man das nicht mehr wollen, denkt man etwa an das grauenhafte Regime in Nordkorea. Es gab historisch gesehen gute Gründe für die Gesellschaften Osteuropas, sich so zu entwickeln. Das weist auch deutlich auf ein Defizit der kapitalistischen Gesellschaften des 19. Jahrhunderts hin. Wir reden über eine Gesellschaft, wie wir sie vielleicht heute noch in Indien erleben. Dort leben 600 Millionen Menschen ohne Strom, ohne Wasser, ohne Toilette. Und ohne Bildung.

Ist Gleichheit überhaupt erstrebenswert?

Völlige Gleichheit, historisch und auch persönlich gesehen, nein. Die Menschen sind ja auch nicht gleich. Es braucht Fairness. Chancengleichheit ist eine interessante Idee: Der Zugang zu einer Bildungseinrichtung sollte für alle offen sein. Aber was derjenige, der aus einem schwierigen Kontext kommt, daraus macht, ist dann seine individuelle Aufgabe.

Wie viel Ungleichheit braucht also ein Land?

Es braucht ein Niveau, auf dem sich Leistung lohnt, Anreizstrukturen existieren, Produktivität, Leistungsbereitschaft und Talent honoriert werden. Es braucht ein maßvolles Ausmaß an Ungleichheit, sodass diejenigen, die wenig Einkommen haben, die krank sind, die schlechte Startbedingungen hatten in ihrem Leben aufgrund der geringen Bildung des Elternhauses, die in den weniger gut situierten Quartieren von Wien aufwachsen, wo eine hohe Arbeitslosigkeit existiert, dass die eine Chance haben, selbst einen Aufstieg zu schaffen.

Und wer sagt, was fair ist? Die Politik?

Als Soziologe sehe ich die Politik als Ausdruck der Verhältnisse, und die fallen nicht vom Himmel. Auch der Wohlfahrtsstaat ist ein Ausdruck der gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse im 20. Jahrhundert. Es waren sowohl Sozialdemokraten als auch die Konservativen, die ihn gestärkt haben, etwa Kohl in Deutschland. Das war eine Antwort auf die Verhältnisse. Viele Menschen haben den Ruf nach mehr Chancengleichheit, weniger Ungerechtigkeit, einem besseren Leben formuliert. Diese historisch einzigartige Phase des Ausbaus von Wohlfahrtsstaaten hat im Grunde eine Demokratisierung von Chancen bedeutet. Dass das jetzt in die andere Richtung geht, sehen wir alle.

Aber bringt der Abbau der Wohlfahrtsstaaten nicht wieder mehr Ungleichheit?

Ja. Die zentrale Frage ist, wie viel wir uns da leisten können und wollen. Es ist sicherlich sehr unklug, das in einer Art Schocktherapie zu tun, wie das etwa in Deutschland ein Stück weit passiert ist.

Wo sehen Sie heute das größte Problem?

In der Frage der Generationengerechtigkeit mit Blick auf die Absicherung. Die Kürzung von Pensionen ist aber nicht der Punkt. Was ich vermisse, ist, dass man fair ist gegenüber den jüngeren Generationen. Denn die sind auch die Verlierer auf dem Arbeitsmarkt. Die 30- bis 50-Jährigen sind typischerweise meist noch immer in den guten Jobs: Vollzeit, stabil, gut bezahlt, entfristet. Darunter sind die Verhältnisse sehr, sehr heikel. Ausgangspunkt der Ungleichheitsforschung war schon im 19.Jahrhundert der Arbeitsmarkt. Dort wird viel Ungleichheit erzeugt, etwa im Bezug auf Gesundheit und Bildung. Viele Lebenschancen werden über die Qualifikation vermittelt. Mit diesen Themen arbeiten wir heute.

Landet man in der Diskussion über Ungleichheit nicht unweigerlich auch bei Fragen der Migration?

Selbstverständlich, das ist aber erst in den letzten 30 bis 40 Jahren ein Thema für uns. Denn so jung ist die Zuwanderung nach Europa. Europa ist traditionell ein Auswanderungskontinent, stark geprägt natürlich durch Veränderungen nach dem Zweiten Weltkrieg, aber dann stoppt das. Startpunkt für die neue Zuwanderung nach Europa sind die bilateralen Abkommen, die Österreich abgeschlossen hat, etwa mit der Türkei. Das hat klare Konsequenzen für die Ungleichheit. Die Struktur auf dem Arbeitsmarkt hat sich damit deutlich verändert, auch im Hinblick auf Gesundheit oder den Wohnungsmarkt.

Aber Alleinverdiener-Haushalte sind generell heute stärker unter Druck...

Es ist für die Mitte zunehmend schwieriger, preiswerten Wohnraum zu finden, in dem Familien leben können: wenn nur einer verdient, weil Kinder da sind oder man eine ältere Person pflegt. Wir haben in Österreich eine breite Mittelschicht bei den Einkommen. Da sind wir noch immer in einer äußerst privilegierten Lage. Aber der Reichtum ist sehr, sehr unterschiedlich verteilt. Unsere neueste Forschung zeigt, dass die Mittelschicht weiter schrumpft.

Das heißt, es gibt mehr Arme? Oder auch mehr Reiche?

Sie schrumpft, weil Menschen in die Armut absteigen. Aber sie schrumpft auch, weil so etwas wie kollektiver Aufstieg stattfindet. Und dieses Nach-unten-Absinken in die Unterschicht betrifft vor allem Migranten. Die migrantische Mittelschicht war vor 20 Jahren in etwa so groß wie die Mittelschicht der Einheimischen ohne Migrationshintergrund, sie lag etwa bei 45 bis 50 Prozent. Heute gehören noch rund 35 Prozent der Mitte an. Das heißt, die Polarisierung innerhalb der migrantischen Sozialstruktur Österreichs ist enorm gestiegen, deutlich stärker als bei den Österreichern. Dort ist eher Stabilität angesagt. Generell glaube ich, dass sich die Politik dem Thema Zuwanderung in einer anderen Art und Weise stellen muss als bisher.

Das bedeutet?

Sie muss es offensiv thematisieren, die Menschen und auch ihre Sorgen ernst nehmen. Denn diese werden manipuliert von Parteien am linken und rechten Rand. Es wäre gut, wenn die großen Parteien den Schalter hier umlegen und sich mit dem Thema offensiver und mit allen Facetten befassen, mit allen Vorteilen und Herausforderungen. Bisher lassen sie sich von den Gruppierungen am rechten Rand vor den Karren spannen und vor sich hertreiben. Das ist fatal.

ZUR PERSON

Roland Verwiebe (geboren 1971) studierte Sozialwissenschaften an der Humboldt-Universität zu Berlin und der Columbia University in New York. Wissenschaftlich war er an Unis in Berlin, Hamburg, Duisburg-Essen und New York tätig. Seit 2009 ist er Universitätsprofessor für Sozialstrukturforschung und quantitative Methoden sowie Vorstand des Instituts für Soziologie der Uni Wien. Seine Arbeitsschwerpunkte sind Themen wie der Arbeitsmarkt, Migration und soziale Ungleichheit.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 22.08.2015)

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