Wiener Texte über Roms Spätreich

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Themenbild(c) Die Presse - Clemens Fabry
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Antike. Neu entdeckte Fragmente aus der Österreichischen Nationalbibliothek beschreiben Roms Gotenkriege entlang der Donaugrenze: Es sind die ersten zeitnahen Quellen darüber.

In der Handschriftensammlung der Nationalbibliothek liegen viele historische Schätze vergraben. Einige müssen erst gehoben werden, wie ein Text aus der Spätantike zeigt, der 1750 Jahre lang auf seine Wiederentdeckung gewartet hat: Es handelt sich um mehrere Blätter aus wertvollem Pergament, auf denen auf den ersten Blick christliche Texte aus Byzanz aus dem 13. Jahrhundert zu lesen sind. Ein Habsburger Diplomat kaufte diese im 16. Jahrhundert in Konstantinopel – heute Istanbul – und brachte sie nach Wien. Forscher vertieften sich nun in die Pergamente und fanden hinter den christlichen Schriften griechische Textreste, die über das Römische Reich von der Mitte des 3. Jahrhunderts n. Chr. berichten.

Dass heute antike Literatur gefunden wird, ist selten: „Wir sind nicht mehr im Zeitalter der Humanisten, in dem man durch Klösterbibliotheken zog und antike Texte wiederentdeckte“, sagt Fritz Mitthof vom Institut für Alte Geschichte, Altertumskunde, Papyrologie und Epigrafik an der Universität Wien. In seinem vom Österreichischen Wissenschaftsfonds (FWF) geförderten und in Kooperation mit der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW) durchgeführten Projekt Scythica Vindobonensia – oder Wiener Skythengeschichte – sind er und ein internationales Team dem Text hinter dem Text auf der Spur.

Mithilfe technischer Verfahren der amerikanischen Early Manuscripts Electronic Library (Emel) sind bereits 60 Prozent des Inhaltes entziffert. Die deutsche Bundesanstalt für Materialforschung unterstützt die Emel, damit der Text lesbar und digitalisiert wird.

Inhalt und Autor der Fragmente

Die Handschrift behandelt die Kriege des Römischen Reiches gegen die Goten zwischen 250 und 251 n. Chr. entlang der Donaugrenze – also des Limes, des Befestigungswalls und der Außengrenze des Imperiums. Der Autor gehörte der städtischen Elite der Region an und beteiligte sich am Kampf gegen die germanische Invasion. Diese überwand in einer Schwächephase Roms den Limes, drang in mehreren Zügen plündernd über das heutige Plovdiv in Bulgarien bis nach Thessaloniki in Nordgriechenland vor und wagte einen Vorstoß über den Engpass der Thermopylen nach Zentralgriechenland. „Der Mann wusste, wovon er schrieb. Er war ein Augenzeuge und gut informiert“, sagt Mitthof.

Nur er verwendet den – damals üblichen – Begriff Skythen zur Beschreibung der Goten: einer germanischen Gruppierung, die sich östlich der Donau formierte und ab dem 4. Jahrhundert in Wellen in das Römische Reich eindrang. Sie sollten letztlich mehrere Königreiche in Teilen Frankreichs und Iberien gründen.

Über diese Phase gab es bislang kaum zeitnahe Quellen. Die Wiener Pergamente liefern daher zahlreiche neue Erkenntnisse. Zunächst über die Schlachten selbst, bei denen erstmals in der römischen Geschichte ein Kaiser – nämlich Decius – im Kampf gegen die „Barbaren“ fiel. Historiker wussten, dass es sich um eine Doppelschlacht handelte, konnten aber keine Erklärung dafür finden. Jetzt zeigte sich, dass die Goten zwei Anführer hatten, die sich rivalisierten und getrennt gegen die Römer in die Schlacht zogen. Der Text öffnet auch ein kleines Fenster zu den Germanen: „Wir erfahren nun Details über ihre Anführer und ihre Heldenlieddichtung. Diese sind in der Frühphase der Völkergenese wichtig für die Bildung einer Stammesidentität“, sagt Mitthof. Erst solche römischen Texte machen Goten, die selbst nichts verschriftlicht haben, greifbar.

Die Donauperipherie war das Zentrum

Dass die römische Armee das Hinterland kaum beschützt hat, bestätigt der Fund ebenfalls. Ihr Hauptaugenmerk lag an den Grenzen. Waren Invasoren einmal eingedrungen, war die Bevölkerung großteils auf sich allein gestellt und formte Bürgerwehren.

Doch entlang der Grenzen, vor allem entlang der Donau, entwickelte sich in der Spätphase des Römischen Reiches eine neue Militärelite. Kaiser und Gegenkaiser entsprangen jetzt den Offiziersreihen der Donauarmee, bis hin zu Konstantin I. – jenem Herrscher, der dem Christentum innerhalb des Römischen Reiches zum Durchbruch verhalf. „Lang war man an der Donau der Hinterhof Roms gewesen, doch das drehte sich dann in der Spätantike um“, sagt der Historiker.

LEXIKON

Die Goten waren ein ostgermanisches Volk, das seit dem 3. Jahrhundert n. Chr. mehrfach in militärische Konflikte mit den Römern verwickelt war. Erst um diese Zeit bildete sich aus vielen germanischen Stämmen eine Art Völkerschaft heraus: Verbände von jungen Männern scharten sich um einen Anführer, um gemeinsam gegen die Römer bestehen zu können. Erst allmählich wurde aus den Kampfeinheiten eine sozial homogene Gruppe. Während der spätantiken Völkerwanderungszeit bildeten zunächst die West- und dann auch die Ostgoten eigene Reiche auf dem Boden des Imperium Romanum, die 553 bzw. 711 n. Chr. untergingen.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 26.09.2015)

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