Zwischen Seuche und „Miss Euter“

Tierethik. Amtstierärzte haben gemeinsam mit Ethikern einen Wegweiser für ihre Arbeitspraxis erarbeitet. Die Ergebnisse fließen in eine neue E-Learning-Plattform ein.

Tiere keulen: Das lässt sich manchmal kaum vermeiden. „Keulen“ bedeutet dabei „im Seuchenfall töten“, wie es in den 2000er-Jahren weltweit massenhaft aufgrund der Vogelgrippe H5N1 passierte. Ob gekeult wird, entscheidet der Amtstierarzt. Wessen Interessen beachtet er dabei vorrangig? Die gesetzlichen Vorschriften sind freilich ein Muss. Doch es liegt an ihm, wie er mit den vielen anderen, oft widersprüchlichen Positionen umgeht: mit dem öffentlichen Interesse an Gesundheit, dem nationalen am Handel, dem Interesse des Tierhalters an möglichst geringen Verlusten, der Lokalpolitik, dem Interesse der Tiere, nicht zu leiden usw.

Amtstierärzte haben ständig Probleme zu lösen, die häufig auch ethische Konflikte in sich bergen. Ist es zulässig, dass Kühe für die Kür der „Miss Euter“ nicht gemolken werden, um dann ein möglichst großes Euter zur Schau stellen zu können? Sind die verwahrlosten Haustiere eines Tierhorters zu euthanasieren, weil das Tierheim bereits überfüllt ist? „Amtstierärzte sehen sich mit einer Vielfalt von Aufgaben konfrontiert, die Kompetenzen verlangen, die in der Ausbildung nur unzureichend abgebildet sind. Das kann zu Überforderung führen“, sagt Kerstin Weich, Universitätsassistentin am Messerli-Forschungsinstitut, einer Kooperation der Vet-Med-Uni Wien mit Med-Uni Wien und Uni Wien. Das Institut hat also 2012, gefördert vom Gesundheitsministerium, ein Forschungsprojekt ins Leben gerufen: „Vethics for Vets – Ethik in der amtstierärztlichen Praxis“.

Matrix als ethisches Werkzeug

Das Projekt zielt auf einen Austausch zwischen Geistes- und Naturwissenschaft ab: Einerseits will man die tierärztliche Praxis auf die Agenda der erst jungen Disziplin der Animal Studies setzen. Andererseits sollen ethische Modelle Amtstierärzten beim Entscheiden und Reflektieren im Alltag helfen. In mehreren Workshops haben deshalb Veterinäre und Ethiker gemeinsam einen „Wegweiser“ erarbeitet. Darin werden beispielhaft ethische Werkzeuge auf Probleme aus der Praxis angewandt.

Für den Tierseuchenfall etwa rät der Wegweiser zu einer in Belgien entwickelten Matrix: Beantwortet man einen Fragenkatalog, wirft die Matrix einen objektivierten Vergleich verschiedener Bekämpfungsmaßnahmen aus. Die Gewichtung der einzelnen Fragen (z. B. „Ist die Nahrungsmittelsicherheit gewährleistet?“) ist im Algorithmus des Programmes festgelegt. „Wir haben das Instrument gemeinsam ausprobiert und besprochen: Was kann das, was kann es nicht?“, erzählt Weich aus den Workshops. Denn: „Das Ethische ist das aufgeklärte Bewusstsein, dass solche Checklisten immer auch etwas verschleiern.“

Explizites Ziel war also nicht, einen starren Ethikkodex zu entwerfen – oder die Moral mit erhobenem Zeigefinger zu predigen. Vielmehr sollte zu strukturiertem Nachdenken und konstruktiver Krisenkommunikation angeregt und angeleitet werden. Amtstierärzte sehen sich in ihrer Arbeitsrealität oft in der Rolle des Mediators oder Psychologen; die Ethik-Instrumente empfanden sie als „Argumentationshilfen“, so Weich: Wird etwa mit der Matrix eine Maßnahme, zu der man sich im Seuchenfall gezwungen sah, rückblickend sehr schlecht bewertet, lässt sich damit gut für vorbeugende Maßnahmen argumentieren. Als Fortsetzung von „Vethics“ ist nun ein E-Learning-Portal für Tierärzte geplant.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 03.10.2015)

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