Das Kino als Konzertsaal der Stummfilmzeit

Kinogeschichte. Musik spielte vor dem Tonfilm eine zentrale Rolle in den österreichischen Kinosälen. Gerade in Wien wollte das Publikum auf bekannte Lieder und Stars der Oper, den Operetten und dem Volkstheater nicht verzichten.

Die meisten Filme am Beginn des 20. Jahrhunderts bestanden aus beweglichen, stummen Bildern, die auf die Leinwände projiziert wurden. Die Kinosäle selbst verstummten jedoch nicht: Orgelspieler, einsame Pianisten oder ganze Salonorchester untermalten, begleiteten oder gestalteten die Stummfilme vor Ort mit.

Filme, in denen Musik eine zentrale Rolle in der Handlung einnahm, waren bis Ende der 1920er-Jahre in Österreich die erfolgreichsten: „Ob Musiktheater, Opern, Operetten oder das Volkstheater, überall spielte die Musik eine große Rolle. Das Kino war deshalb nicht nur Konkurrenz, sondern auch Kooperateur dieser Institutionen“, sagt Claus Tieber vom Fachbereich für Musik- und Tanzwissenschaft der Uni Salzburg. In seinem vom Österreichischen Wissenschaftsfonds (FWF) geförderten Projekt „Der österreichische Musikfilm 1912 bis 1933“ will er die Bedeutung der Melodik und Lieder herausstreichen.

Tieber will bei den Musiknummern – der eigentlichen Attraktion der Filme – genauer hinhören. Das sei in der Forschung bisher noch nicht geschehen, und das, obwohl die Musik Handlungen „unterbrechen, unterstreichen, beschleunigen oder verlangsamen“. Was Filmemacher mit musikalischer Untermalung erzeugen können, sei eben keine Erfindung der Tonfilmzeit: Schon zuvor hörte das Publikum etwa bei Verfolgungsjagden spezifisch ausgewählte Musik.

Zudem traten in den österreichischen Filmen die Stars aus den Opern und Operetten auf. Das Publikum wollte im Kinosaal die gleichen Lieder und Melodien hören, die es von den anderen Bühnen der Stadt bereits kannte. Das wussten die Produzenten und Regisseure genau.

Manche Filme waren daher nur eine Aneinanderreihung von Musiknummern. Musik wurde zum Inhalt der Handlung: Mozart-, Beethoven- und Johann-Strauß-Biographien sowie Operettenverfilmungen – etwa diverse Versionen von „Die lustige Witwe“ – waren Publikumsmagnete. „Ich vermute, dass die Musik der eigentliche Grund war, warum man Filme anschaute. Die Leute begriffen das Kino als Konzertsaal“, sagt Tieber.

Vom Kinokonzert zum Musical

Der Erfolg blieb nicht allein in Österreich verhaftet. Die große Anzahl der verfilmten Operettenmusicals mit dem Aufkommen des Tonfilms in Amerika ist auch mit Österreich inhaltlich und personell verknüpft. Hollywood produzierte Filme wie „Der lächelnde Leutnant“, basierend auf der österreichischen Operette „Der Walzertraum“ von Oscar Strauß.

Die Migration österreichischer Kunstschaffender beeinflusste die Traumfabrik und den Broadway nachhaltig. Zwei bekannte Beispiele seien genannt: Der Grazer Robert Stolz etwa emigrierte 1938 nach New York. Er wurde 1941 und 1944 für einen Filmmusik-Oscar nominiert.

Mehr als zehn Operetten vom Wiener Alfred Grünwald liefen schon in den 1920er-Jahren auf dem Broadway in New York – jenem Ort, wo er sich nach seiner Zwangsausweisung durch die Nationalsozialisten niederließ.

„Es gibt zwar keine stringente Entwicklung vom österreichischen Musikfilm zum amerikanischen Musicalfilm, aber die Beeinflussungen sind evident“, sagt Tieber.

Dass das Kino bis heute „ein moderner Konzertsaal“ blieb, ist für Tieber logisch: Hier hört man zeitgemäße Lieder von lebenden Komponisten. Hier werden Menschen mit Musik sozialisiert. (por)

LEXIKON

Die Aufführung von Stummfilmen war eigentlich nie stumm: Musik einzelner Musiker, von Orchestern oder aus Musikmaschinen ertönte, und es gab Kino-Erzähler, die den Film erklärten. In den 1920er-Jahren wurden dann der Nadeltonfilm, eine mechanisch-elektromagnetische Schallplattenabtastung, und der Lichttonfilm, eine optische, dadurch hörbare Toninformation, auf der Filmrolle erfunden. Damit konnten bildliche und akustische Informationen synchron gezeigt werden.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 03.10.2015)

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