Arbeitszeit: Warum kommen wir uns so geschäftig vor?

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Der Anteil des Lebens, den wir mit Arbeit verbringen, hat sich seit 50 Jahren kaum verändert.

„Ich bin in höchster Eile“, hört man oft von Bekannten, auch von sich selbst: Die Zeit rast immer rascher, die Anforderungen werden immer höher, vor allem jene im Beruf. Die Medien nehmen es gern auf, „Burn-outs“ füllen die Schlagzeilen, Bücher wie „Busier Than Ever!“, „Work Without End“ steigen hoch in Bestsellerlisten.

Zu ihrer Lektüre oder zumindest zum Kauf ist schon noch Zeit, und ist es überhaupt wahr, dass wir immer mehr zu tun haben? Die Datenlage ist gar nicht so üppig, es gibt zwar viele Umfragen, aber den Antworten darf man nicht blind trauen. Das weiß Jonathan Gershuny (Oxford), er hütet seit den 1970er-Jahren einen Schatz: 1961 bat die BBC für ihre Programmplanung Freiwillige, Tagebuch zu führen, jede halbe Stunde: „8.00 Frühstück, 8.30 Kind in die Schule gebracht“, stand da etwa zu lesen. 2363 Tagebücher haben sich erhalten, sie bildeten den Grundstock von Gershunys Uni-Institut – Centre for Time Use Research –, inzwischen hat er 850.000 Aufzeichnungen aus 30 Ländern, sie dokumentieren die letzten 50 Jahre.

Was hat sich also geändert? In der Wahrnehmung viel, in der Sache wenig: „Betrachtet man den nationalen Durchschnitt, zeigt sich fast nichts“, fasst Gershunys Mitarbeiterin Oriel Sullivan eine Studie zusammen, in der sie die britischen Zeitbudgets von 1961 und 2001 verglichen: Bei den Männern hatte sich etwas Arbeit verschoben, von bezahlter am Arbeitsplatz zu unbezahlter zu Hause, in Summe hatten sie 2001 50 Minuten mehr freie Zeit pro Tag. Bei den Frauen war die Verschiebung in die Gegenrichtung gelaufen, mehr freie Zeit brachte das nicht (Nature 526, S. 495).

Verzerrte Wahrnehmung

Zwei Gruppen allerdings arbeiteten deutlich härter: Alleinerziehende und Studierte mit kleinen Kindern, die Karriere machen und unter sozialen Druck geraten sind, sich auch zu Hause zu kümmern. Dazu zählen Akademiker, die sich beruflich mit Problemen von Arbeitsüberlastung befassen, sowie Journalisten, beide haben „laute Stimmen“, ihnen rechnen Gershuny und Sullivan die verzerrte Wahrnehmung zu. Auch jene der eigenen Leistung: Vergleicht man Tagebuchfixiertes mit Abgefragtem, wird in Letzterem die bei bezahlter Arbeit verbrachte Zeit überschätzt, und zwar umso stärker, je mehr man arbeitet.

Sehr wohl geändert hat sich die Mode des Umgangs mit der Zeit. Im 19. Jahrhundert wurde Reichtum oft durch ostentatives Nichtstun gezeigt – in Paris waren Flaneure mit Schildkröten an der Leine unterwegs, Thorstein Veblen systematisierte es zur „Theorie der feinen Leute“ –, heute ist Hetze das Markenzeichen. (jl)

("Die Presse", Print-Ausgabe, 29.10.2015)

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