„Es gibt weit mehr als Angst und Ablehnung“

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FL�CHTLINGE(c) APA/DANIEL SCHARINGER (DANIEL SCHARINGER)
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Migration. Wie sehen die Wiener Zuwanderung und Integration? Die positive Grundstimmung könnte den Boden für die große Solidarität gegenüber den Flüchtlingen aufbereitet haben, sagt Soziologe Roland Verwiebe zur „Presse“.

Supermärkte könnten ihre Produkte nicht mehr so billig anbieten oder müssten schließen. Straßenbahnen und U-Bahnen könnten nicht mehr fahren. Ein Glas Bier würde weit mehr kosten. Der Soziologe Roland Verwiebe formuliert überspitzt, um zu zeigen, was passieren würde, wenn es keine Zuwanderer gibt. Ob das den Wienern auch bewusst ist? Immerhin 78 Prozent meinen in einer aktuellen Studie, dass Zuwanderung wichtig ist, weil in einigen Bereichen Arbeitskräfte fehlen. Die Stadt Wien führt seit 1989 – fast jedes Jahr – Befragungen zum Zusammenleben in Wien durch. Erstmals haben nun Verwiebe und sein Team am Institut für Soziologie der Uni Wien diese Daten ausgewertet.

Die Stimmung scheint generell sehr offen – ein für die Forscher in diesem Ausmaß überraschendes Ergebnis: „Rund 85 Prozent der rund 800 Befragten sehen Zuwanderung als positiven Impuls für das Stadtleben und befürworten gleiche Rechte für Migranten, die schon lange in der Stadt leben“, sagt Verwiebe – ein Plus von zwölf Prozent gegenüber 2010. Es gibt ein klares Plädoyer für kulturelle Vielfalt: Immer mehr Menschen meinen, dass Zuwanderung die Kultur und das Leben bereichert. „Es gibt also wesentlich mehr Stimmungen als Angst und Ablehnung“, sagt Verwiebe.

Basis für Hilfsbereitschaft

Die nun ausgewerteten Daten stammen aus dem Jahr 2013 – ist das positive Bild nicht eventuell durch die Flüchtlingskrise gekippt? Aktuelle politische Ereignisse hätten sicher einen Effekt auf Toleranz und Integrationsbereitschaft, räumt Verwiebe ein. Das habe sich auch Mitte der 1990er-Jahre, also zur Zeit der Balkankriege, gezeigt: Damals wurde Zuwanderung als größeres Problem gesehen. Lässt sich durch die positive Einstellung die große Hilfsbereitschaft gegenüber den Flüchtlingen erklären? Sie könnte den Boden für die starke Solidarität und das Engagement aufbereitet haben, so Verwiebe.

Die Stadt lässt die Zuwanderung seit mehr als 25 Jahren in wissenschaftlichen Studien beobachten. „Es gibt keine andere österreichische und wohl auch keine andere europäische Stadt, in der die öffentliche Verwaltung eine zentrale Frage des Zusammenlebens mit so großen Studien begleitet“, sagt Verwiebe. Das erlaube es, Themen wissenschaftlich über einen langen Zeitraum zu beobachten und Trends abzulesen.

Abgefragt wird alle ein bis zwei Jahre die Einstellung der Menschen zu Zuwanderung und Integration. Wie stehen sie zur Zuwanderung? Wie bewerten sie das Miteinander in der Stadt? Viele unterschiedliche Themen werden abgefragt, neben der Einstellung zum Zusammenleben etwa auch die zu Schulbildung oder Arbeitsmarkt. „Damit trägt man dem Umstand Rechnung, dass es ein sehr komplexes Thema ist.“

Die Befragungsmethoden haben sich dabei mit der Zeit stark geändert: Vor 25 Jahren begann man mit persönlichen Befragungen. Heute werden die Menschen telefonisch oder über das Web kontaktiert, so erreicht man auch Jüngere.

Ältere zunehmend kritischer

Auffallend kritischer als diese antworteten in der aktuellen Erhebung die älteren Befragungsteilnehmer. Sie sehen Integration öfter als problematisch als Jüngere. Warum ist das so, wenn sie etwa der wachsende Konkurrenzkampf am Arbeitsmarkt gar nicht direkt betrifft? „Sie sehen, dass ihre Kinder und Enkelkinder größere Schwierigkeiten haben als sie selbst, das führt zu einer kritischen Haltung.“

Eine grundsätzliche Skepsis, die sich aber auch in anderen Studien, etwa zur Lebensqualität in der Stadt, zeige, so Verwiebe. Ob subjektives Sicherheitsempfinden oder Qualität des öffentlichen Nahverkehrs: Hätten Ältere noch vor zehn Jahren viele Aspekte positiver eingeschätzt als der Bevölkerungsdurchschnitt, so hat sich dieses Bild mittlerweile umgekehrt. Man müsste Ältere also in der Diskussion stärker ins Boot holen, mehr mit ihnen kommunizieren. Mitunter helfe es auch, jüngere Zuwanderer mit älteren Menschen auf eine Tasse Tee zusammenzubringen: „Persönliche Kontakte bringen Sympathie. Das sind Maßnahmen, die lange brauchten, aber funktionierten“, so Verwiebe.

Insgesamt füllen die Ergebnisse der Befragung mehr als 140 Seiten. Eine Studie für die Schublade? Keinesfalls, der Soziologe sieht seine Arbeit als angewandte Forschung, will sich mit seiner Expertise in die aktuelle Debatte einbringen. Konkreten Handlungsbedarf sieht er aktuell vor allem in zwei Bereichen.

Sorgen ernst nehmen

So befürchten erstens viele Befragte, dass Zuwanderung den Lohn drückt und die Arbeitsbedingungen verschlechtert. Diese Sorge sei zwar rückläufig, liegt aber bei etwa 44 Prozent: Migranten nehmen oft Arbeit zu schlechteren Konditionen an. Das vergrößert den Niedriglohnsektor. „Die Menschen sind nicht blind und dumm. Sie wissen, dass sich ihre Lebensbedingungen massiv ändern können, wenn mehr Zuwanderer kommen, und sehen mögliche Probleme. Die Politik muss darauf eingehen, darf sich nicht wegducken“, sagt Verwiebe.

Zweitens erwarten 45 Prozent der befragten Wiener negative Effekte für ihre Kinder, wenn durch die Migration die Qualität der schulischen Bildung sinkt. Auch diese Sorge sei rückläufig – vor zehn Jahren lag der Wert bei über 50 Prozent –, aber doch so groß, um ernst genommen zu werden. Auch internationale Studien zeigten, dass dies keine unbegründeten Ängste sind: „Ein hoher Anteil an Kindern mit Migrationshintergrund in Schulklassen drückt das Leistungsniveau, das lässt sich nicht wegdiskutieren.“ Dafür seien neben kulturellen Unterschieden und Sprachproblemen auch andere Lernmethoden und Leistungsstandards als im Herkunftsland verantwortlich.

Sind Schwierigkeiten also unumgänglich? „Es ist logisch, dass Kinder in den ersten ein bis drei Jahren Anpassungsschwierigkeiten haben.“ Schon der Schulwechsel von Wien auf das Land könne mit großen Problemen einhergehen und zu starken Leistungseinbußen führen, so Verwiebe. Mögliche Auswirkungen bei einem Umzug in ein anderes Land und eine andere Kultur seien noch gravierender. Hier müsse man investieren: in bessere Betreuung in den Klassen oder Sozialarbeiter an den Schulen, die beim Wechsel helfen. Nur so ließen sich langfristige negative Effekte in der Bildung und später am Arbeitsmarkt vermeiden.

Wie genau sich die aktuellen Flüchtlingsströme hier auswirken, lässt sich aber noch nicht abschätzen. „Das müsste man sich noch einmal neu anschauen“, sagt Verwiebe. Für 2016 ist die nächste Erhebung geplant.

ZUR PERSON

Roland Verwiebe (44)

studierte Sozialwissenschaften an der Humboldt-Universität zu Berlin und der Columbia University in New York. Seit 2009 ist er Universitätsprofessor für Sozialstrukturforschung und quantitative Methoden am Institut für Soziologie der Uni Wien. Seine Arbeitsschwerpunkte sind der Arbeitsmarkt, Migration und soziale Ungleichheit. [ Fabry ]

("Die Presse", Print-Ausgabe, 31.10.2015)

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