Nuno Maulide: „Ohne Chemie wären wir in der Steinzeit“

Nuno Maulide
Nuno MaulideDie Presse
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Der Portugiese Nuno Maulide, Chemiker an der Uni Wien, vermittelt seine Forschung mit Freude und Elan. Wien ist für ihn eine „super Stadt“ mit besten Bedingungen für Spitzenforschung. An der Chemie fasziniert ihn Eleganz.

Die Presse: Sie haben in Portugal und Frankreich studiert, an der Stanford University in den USA geforscht und zuletzt eine Gruppe am Max-Planck-Institut für Kohlenforschung in Deutschland geleitet. Warum sind Sie nach Wien gekommen?

Nuno Maulide: Die Frage ist eigentlich traurig, weil sie verdeutlicht, wie wenig Selbstbewusstsein man in Österreich hat. Andauernd höre ich: „Sie waren in so berühmten Forschungseinrichtungen und haben so tolle Sachen gemacht, warum sind Sie nun in Wien?“ Meine Antwort ist: Warum nicht? (lacht)

Meine Frage bezog sich darauf, was genau Sie hergelockt hat.

Wien ist eine super Stadt und die Universität Wien bietet exzellente Bedingungen. Außerdem ist die Lebensqualität, verglichen mit allen Orten, an denen ich gelebt habe, in Wien unschlagbar. Und ich habe es hier nicht weit zu Kollegen der Medizin und Pharmazie, wenn jemand die Moleküle, die wir entwickeln, testen soll. Ich muss nur drei Minuten über die Währinger Straße zur Med-Uni gehen.

Sie sind auch wegen des guten Rufs der Uni Wien gekommen?

Die besten 20 Prozent der Chemiestudenten in Wien sind um nichts schlechter als die besten Studenten in Oxford oder Cambridge. Das Problem: Sie wissen nicht, dass sie so gut sind. Während man anderswo damit angibt, wo man studiert hat, sagt hier niemand: „Ich habe an der Uni Wien studiert.“ Vielleicht hat es etwas Gutes, denn darum sind hier die Chemiestudenten nicht hochnäsig und leisten gute Arbeit (lacht).

Sie sind Professor für organische Chemie und spielen täglich Klavier. Finden Sie, dass sich Chemie und Kunst ähnlich sind?

Und wie. Wenn ich mit Studenten an Strukturen von Molekülen bastle, malen wir Striche und Zeichnungen auf Tafeln, die genauso unsere Sprache sind wie Musiknoten für Musiker. Wenn man versteht, was sie bedeuten, liegt eine Schönheit darin. Und Chemie hat viel mit Eleganz zu tun.

Wie kann Chemie elegant sein?

Es gibt für chemische Reaktionen oft eine brutale Variante, wie ich ein Molekül A in ein Molekül B verwandeln kann. Doch wir suchen stets nach eleganten Möglichkeiten für eine Reaktion. Man muss viel nachdenken, viel ausprobieren – aber irgendwann findet man eine Lösung, die so einfach und doch hoch effizient ist. Das ist Eleganz und das ist Kunst.

Sucht man die elegante Lösung nur der Schönheit wegen?

Nein, die meisten Reaktionen in der chemischen Industrie, d. h. in sehr großem Maßstab, sind elegante Prozesse: Denn sie reduzieren die Kosten. Einfache Ausgangsmaterialien sind billig und effiziente Reaktionen vermeiden Abfall und Nebenprodukte.

Bedeutet organische Chemie auch, Moleküle im Labor nachzubauen, die es in der Natur schon gibt?

Wir bauen viel mehr im Labor, als es in der Natur gibt. Aber wir nehmen die Inspiration aus der Natur. Derzeit geht der Trend in der Pharmaindustrie zu Wirkstoffen, die von der Natur inspiriert sind.

Warum das?

Jedes Molekül, das in der Natur vorkommt, hat mehrere Milliarden Jahre Evolution hinter sich. Es gibt einen Grund, warum es genauso aussieht, wie es jetzt aussieht. Weil es sich über Milliarden von Jahren gegenüber ähnlichen Vorgängermolekülen im Versuch-und-Irrtum-Verfahren durchgesetzt hat. Es wäre eine Verschwendung von Information, wenn wir ausschließlich Wirkstoffe suchen, die nicht von der Natur inspiriert sind.

Das bringt uns zu Ihrem Forschungsthema: die 3-D-Welt der Moleküle. Auch das ist von der Natur vorgegeben, oder?

Ja: Unsere Welt ist chiral! Das bedeutet, dass viele Moleküle komplexe 3-D-Strukturen besitzen, die zwar spiegelbildlich sind, aber nicht identisch. Im Wort Chiralität steckt das griechische Wort Chiros, Hand. Ihre Hände sehen zwar spiegelbildlich gleich aus, aber doch passt der linke Handschuh nicht auf die rechte Hand. Genauso unterscheiden sich ein linksdrehendes L-Molekül und sein rechtdrehendes D-Spiegelbild.

Sind auch Wirkstoffe in Medikamenten chiral aufgebaut?

Nein, die überwiegende Anzahl der Wirkstoffe sind flache, zweidimensionale Moleküle, weil sie leichter zu bauen sind. Bei chiralen Molekülen muss man auch vorsichtig sein. Ein Beispiel eines chiralen Medikaments war Contergan: Es wurde als 50:50-Mischung von D- und L-Molekülen hergestellt. Eine Form wirkte, die andere führte zu Schäden bei Kindern im Mutterleib. Es muss bei chiralen Molekülen also geprüft werden, welche spiegelbildliche Form das Medikament ist und welche Nebenwirkungen die andere hat.

Welchen Vorteil haben chirale Moleküle in Arzneien?

Fast alle Moleküle der Natur sind chiral, so wie die Moleküle, aus denen unser Körper besteht, auch 3-D sind. Daher haben chirale 3-D-Wirkstoffe potenziell eine höhere Aktivität.

Sind chirale Moleküle schwieriger zu entwickeln und teurer?

Ein einfaches flaches Molekül ist Benzol, das in Erdöl vorkommt. Es ist verfügbar und billig. Aber es war schwer, aus Benzol chirale Moleküle herzustellen, da es nicht gern reagiert. Wir haben mit Dotochemie geschafft, Benzol so zu aktivieren, dass es chirale Produkte liefert.

Für diese Erfindung wurde Ihnen der ERC Starting Grant des Europäischen Forschungsrates zugesprochen. Wie funktioniert diese Reaktion genau?

Benzol gehört zu der Gruppe der aromatischen Verbindungen, die gut UV-Licht aufnehmen. In Sonnencremen sind auch aromatische Verbindungen: Sie fangen UV-Licht ab, damit Ihre Haut geschützt wird. Durch UV-Licht, das wir auf die Aromaten strahlen, können sie aktiviert werden und lassen sich manipulieren.

Geht es in Ihrer Forschung auch darum, Abfall und Nebenprodukte bei chemischen Reaktionen zu vermeiden?

Die Folgen für die Umwelt sind ein großes Problem der chemischen Industrie. Doch vieles, was nicht umweltfreundlich ist, weil es viele Nebenprodukte erzeugt, ist auch gar nicht wirtschaftlich. Wenn eine Firma eine Tonne eines Wirkstoffs braucht, aber dafür 500 Kilogramm Abfall entsorgen müsste, wird sie einen anderen Weg suchen. Daher sind wir stets auf die Ökonomie der Atome bedacht: Möglichst viele Atome des Ausgangsstoffes sollen im Endprodukt enthalten sein.

Soll man der Umwelt zuliebe weniger Metallkatalysatoren, also Substanzen, die man benötigt, damit eine Reaktion leichter abläuft, einsetzen?

Findet man Synthesewege, die gar keine Metallkatalysatoren benötigen, ist der Nutzen noch größer. Uns ist es gelungen, bei der Herstellung von Beta-Lactamen, einer Gruppe von Antibiotika, auf Metallkatalysatoren zu verzichten. Bisher war dafür ein Rhodium-Katalysator notwendig: Das Metall ist teurer als Silber und Gold. Bleiben Reste davon im Wirkstoff, kann das giftig für unsere Zellen sein. Der neue Syntheseweg läuft ohne Rhodium ab. Das ist billiger und sicherer für Mensch und Umwelt.

Wo haben Sie gelernt, chemische Details so klar zu vermitteln?

Wir Chemiker, nicht nur in Österreich, haben ein Problem: Wir dachten zu lang, Chemie muss man dem Publikum nicht erklären – es versteht ohnehin jeder, dass ohne Chemie diese Welt nicht funktionieren würde. Aber das zu vermitteln ist immens wichtig! Ohne Chemie wären wir in der Steinzeit, wir hätten keinen Kühlschrank, keine moderne Kleidung, keine Medikamente, kein sauberes Trinkwasser. Ohne chemische Unterstützung der Landwirtschaft könnten wir nicht einmal die Weltbevölkerung ernähren.

Noch eine Frage zu Ihrem Team an der Uni Wien: Auf der Homepage sieht man die Flaggen von über zehn verschiedenen Ländern inklusive Syrien, China und Thailand. Warum diese Vielfalt?

Anfangs hieß es in Wien, der Maulide nimmt keine Österreicher, nur Ausländer. Das stimmt natürlich nicht. Denn ich möchte hier auch eine chemische Schule aufbauen mit einer Reihe von Österreichern, die mit mir gearbeitet haben. Doch ich würde nie mit einer Gruppe arbeiten wollen, die zu 100 Prozent aus Portugiesen besteht, obwohl das meine Nationalität ist. Wenn alle im Team denselben Lehrer hatten und aus der gleichen Kultur stammen, entstehen keine kreativen Lösungen. Ich will für jedes Problem die Ideen von Menschen aus zehn verschiedenen Ländern. Meine Studenten lernen so auch Toleranz und sehen, dass jeder Mensch etwas Gutes bringt.

In welcher Sprache unterhalten sich alle?

Auf Englisch. Als Gruppenleiter will ich alle Mitarbeiter gleich behandeln – fast wie ein Papa, der alle Kinder gleich behandelt. Darum rede ich auch mit meinen portugiesischen Studenten Englisch.

ZUR PERSON

Nuno Maulide wurde 1979 in Lissabon, Portugal, geboren. Nach dem Chemiestudium in Lissabon hängte er noch ein Masterstudium an der École Polytechnique in Paris an. Seine Dissertation verfasste er an der katholischen Universität Louvain in Belgien. Danach folgte ein Forschungsaufenthalt an der Stanford Universität, USA. Ab 2013 war Maulide am Max-Planck-Institut für Kohlenforschung in Mülheim, Deutschland, Gruppenleiter in der organischen Chemie. Zehn seiner dortigen Studenten gingen 2014 mit nach Wien, wo Maulide zum Professor für organische Synthese berufen wurde. In seinem Team sind derzeit Studierende aus über zehn Ländern beschäftigt. Die Forschung konzentriert sich auf neue Synthesewege organischer Moleküle.

Organische Chemie befasst sich mit chemischen Verbindungen, die auf Kohlenstoff basieren. Dazu gehören alle Bausteine des Lebens auf der Erde. Bisher sind über 40 Millionen organische Verbindungen bekannt. Fast alle Moleküle unseres Alltags sind organisch: Kleidung, Kosmetika, Medikamente. Organische Chemiker versuchen, diese Moleküle mit verbesserten Eigenschaften zu produzieren.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 07.11.2015)

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