EU-Kulturhauptstädte im Vergleich

BRESLAU - EUROP�ISCHE KULTURHAUPTSTADT 2016
BRESLAU - EUROP�ISCHE KULTURHAUPTSTADT 2016(c) APA/PETER KOLB (PETER KOLB)
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Sozialanthropologie.Die türkische Forscherin Ayşe Çağlar hat an der Uni Wien europäische Metropolen und die EU-Kulturhauptstädte verglichen. Sie weist nach, dass Migranten zum Reichtum der Städte beitragen.

Jedes Jahr vergibt die EU an zwei Städte den Titel Kulturhauptstadt Europas. 2016 werden es Breslau in Polen und San Sébastian in Spanien sein. In Österreich gehören Graz (2003) und Linz (2009) dazu. Mithilfe von EU-Geldern wird in diesen Städten ein buntes Programm präsentiert, von dem die Einwohner, die örtliche Wirtschaft und Touristen profitieren.

60 Städte stehen inzwischen auf dieser Liste. Vier davon hat die Sozialanthropologin Ayşe Çağlar von der Uni Wien mit ihrem Team untersucht und mit den europäischen Drehkreuzen Wien, Budapest und Berlin verglichen. Ihre spezielle Perspektive galt den Migranten in den Städten und der Rolle, die sie für städtische Umstrukturierungsprozesse spielen.

Dabei versteht sie unter dem Begriff Migranten auch Ausländer an Universitäten oder ausländische Fachkräfte. Auffällig ist aus Sicht Çağlars, dass es beispielsweise in Wien eine besonders große Zahl nicht integrierter Migranten gibt: „Sie können lang getrennt von allen anderen hier leben und etwa bei der UNO arbeiten, ohne auch nur das Verlangen zu zeigen, die deutsche Sprache zu lernen.“

Das Forschungsprojekt basiert auf der Annahme, dass Städte in ihrem Positionskampf um wirtschaftliche, gesellschaftliche und politische Macht verglichen werden können. „Gerade in der globalisierten Gesellschaft sind Orte sehr wichtig, weil die Restrukturierung und die Akkumulation von Kapital in einer spezifischen Zeit und an einem spezifischen Platz realisiert werden“, erklärt Çağlar.

Ihre Schlussfolgerung: „Dieser Positionskampf wird eher von Städten als von Nationalstaaten geführt. Staaten sind in Bezug auf ihr Verhältnis zu den Städten in unterschiedlicher Weise Teil dieses Prozesses.“ So entstehen nationenübergreifende Beziehungen zwischen Städten. „Sie sind der Ort, an dem Reichtum produziert wird.“

Migranten in Linz und Pécs

Ein besonderes Augenmerk galt der Frage, welche Rolle Migranten für Reichtum und den Zugang der Städte zu Ressourcen spielen. Pécs, Linz, Essen und Marseille teilen als Stahl- bzw. Bergbaustandorte das Schicksal, dass sie Ende des 20. Jahrhunderts deindustrialisiert wurden, was mit dem Verlust vieler Arbeitsplätze verbunden war. In allen leben große Gruppen von Zuwanderern und deren Nachkommen. Und für alle hat der Titel Kulturhauptstadt nicht die große Wende gebracht.

Trotz oder gerade wegen des Wettbewerbs sind Kulturhauptstädte selbstverständlich längst Ge-schäftsfeld für Experten und Politikberater. Doch selbst wenn sie den Städten dasselbe empfehlen, führt dies zu unterschiedlichen Ergebnissen. Ein anschauliches Beispiel dafür sind die sogenannten Kulturpiloten, also Stadtführer durch das soziokulturelle Umfeld, die es sowohl in Linz als auch in Marseille gab.

Während es in Linz Frauen mit Migrationshintergrund waren, die Touristen ihren Lebensalltag vom Kindergarten bis zum Einkaufszentrum zeigten, erklärten in Marseille die Bewohner eines Stadtteils anderen Einheimischen ihr Viertel. Während in Linz das Tourismusbüro Organisator war, initiierte die Sozialbehörde die Aktion in Marseille, wo traditionell viele Algerier und Marokkaner mit französischem Pass leben, die sich nicht als Migranten verstehen. Çağlar hält es für bemerkenswert, dass dieselben Projekte zwischen verschiedenen Städten zirkulieren, um deren einzigartige Charakteristika zu beschreiben und die aufgrund deren institutionellen und sozialen Hintergrunds verändert werden.

Für Pécs, Linz und Essen sind laut ihrer Analyse die Universitäten als Wirtschaftsfaktor für die ehemaligen Industriestandorte entscheidend. „In diesen Fällen wurde bewiesen, dass ausländische Studenten in kleinen Städten ökonomisch bedeutender sind als die Kulturhauptstadtförderung der EU“, beschreibt Çağlar. „Ohne die Unis und die ausländischen – besonders die skandinavischen und deutschen Studierenden – hätte Pécs ökonomisch nicht überlebt.“ Die Kulturhauptstadtmittel seien lediglich zur kulturellen Sanierung der Stadt und nicht für eine nachhaltige Umstrukturierung genutzt worden.

Im Gegensatz zu den kleineren Städten werben die Metropolen Budapest, Wien und Berlin mit ihrer kulturellen Vielfalt und beziehen Ausländer bewusst in ihr Kulturmarketing ein.

Die Krise durchgestanden

Der Einfluss der EU auf die Städte ist der Studie zufolge sehr unterschiedlich, wobei die Krise von 2008 von allen in unterschiedlicher Weise durchgestanden wurde. Für Budapest und Pécs ist der städtische Regenerationsprozess nicht vorstellbar ohne EU-Strukturfondsmittel und die Ansiedlung europäischer Institutionen. Im Gegensatz zu den Metropolen Wien, Budapest und Berlin verstehen die kleineren Städte Essen und Linz den Niedergang ihrer Kohle- und Stahlindustrie als die Krise schlechthin. Pécs dagegen befindet sich seit dem Regimewechsel 1989 aus eigener Sicht in einer Dauerkrise.

LEXIKON

Der Titel Kulturhauptstadt Europas wird seit 1985 jährlich von der EU vergeben, seit 2004 an mindestens zwei Städte. Die Ernennung soll die Vielfalt, den Reichtum und die Gemeinsamkeiten des kulturellen Erbes in Europa hervorheben. Die Städte erfahren jeweils für ein Jahr erhöhte Aufmerksamkeit und bekommen mehr Besucher.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 12.12.2015)

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