Gejagt und vergiftet: Holen die Geier die Geier?

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In den 1990ern dezimierte die asiatische Geierkrise die Populationen, nun grassiert das Sterben in Afrika: Die Entsorger werden gejagt und vergiftet.

Auf seiner zweiten Reise war Sindbad der Seefahrer in eine Schlucht geraten, in der elefantengroße Schlangen lauerten und aus der es kein Entrinnen gab, zumindest nicht zu Fuß. Da fiel etwas herab: ein totes Schaf, blutiges Fleisch, das Fell war abgezogen. Davon hatte Sindbad gehört, von einem Tal der Diamanten, dessen Schätze mithilfe von Vögeln gehoben wurden: mit riesigen Geiern. Man lockte sie mit Aas hinab, an dem Diamanten kleben blieben, die überall auf dem Boden lagen. Waren die Vögel wieder oben, jagte man ihnen die Beute ab – oder setzte sich unter ihre Horste und wartete auf den Kot.

Also stopfte Sindbad sich die Taschen voll und band sich an den Kadaver, der nächste Raubvogel trug ihn aus seiner ausweglosen Lage hinaus.

Nun ja, das ist eine Ausgeburt von Tausendundeiner Nacht, aber die ganz gewöhnliche Arbeit der Geier ist auch kaum bezahlbar. Das merkte man in den Neunzigerjahren in Indien, als die Geier tot von Himmel fielen, zu Millionen, bis zu 95 Prozent der Populationen. Nun wurden tote Tiere nicht mehr so entsorgt wie früher – auch Menschen nicht, die Glaubensgemeinschaft der Parsen lässt ihre Toten von Geiern bestatten –, stattdessen machten sich verwilderte Hunde über das Aas her. Anders als Geier, die nach ihren Mahlzeiten wegfliegen, streunen Hunde herum und verbreiten, was sie sich am Aas geholt haben: Tollwut vor allem. 55.000 Menschenleben fordert sie im Jahr auf der Erde, 20.000 in Indien, die Gesundheitskosten des Landes stiegen von 1993 bis 2006 um 34 Milliarden Dollar.

So wertvoll sind die Geier, auch wenn man ihnen bei ihrem blutigen Geschäft nicht gern zusehen mag, und auch wenn sie generell keinen erfreulichen Anblick bieten mit ihren nackten Schädeln und Nacken. Warum haben sie dort keine Federn? Weil sie mit Blut verkrustet würden, wie man weithin vermutet? Graeme Ruxton (Glasgow) winkt ab: Andere Vögel, Riesensturmvögel etwa, stecken ihre Köpfe auch tief in Aas, sie waschen die Federn hinterher. (Geier machen das mit ihrer nackten Haut auch.) Ruxton bietet eine andere Erklärung: Thermoregulation. Geier hausen oft in Regionen, in denen tags die Sonne glüht und nachts die Kälte klirrt. Am Tag kann nackte Haut Hitze abstrahlen; in der Nacht machen die Geier einen Buckel bzw. sich klein und ziehen die Flügel über den Kopf, so halbieren sie den Wärmeverlust (Journal of Thermal Biology 13, S. 168). Aber dort, wo es wirklich kalt ist, können sie sich nicht klein machen: Geier steigen in große Höhen – der Rekordhalter soll elf Kilometer über der Erde mit einem Flugzeug kollidiert sein –, da wären wärmende Federn von Nutzen.


Urin desinfiziert die Beine

Wie auch immer, nicht nur oben sind die Geier nackt, unten sind sie es auch, und obendrein riechen sie dort gar nicht fein, sie lassen den Urin an den Beinen herabrinnen. Das dient nebenher dem Kühlen in der Hitze, es gehört aber vor allem zu dem breiten Repertoire, mit dem Geier ertragen, was sie tun bzw. fressen: Aas eben, verrottetes Fleisch, in dem Bakterien wimmeln, und das obendrein oft nur durch eine Körperöffnung zugänglich ist, den Anus.

Entsprechend übersät sind Geier mit Bakterien, im Gedärm jedoch haben sie frappant wenige. Dafür sorgt ein extrem saurer Magensaft – pH-Wert: null –, aber selbst dieser kann nicht alle Bakterien abfangen, ihre Gifte schon gar nicht. Deshalb haben Geier eines der stärksten Immunsysteme, es wird mit den tödlichsten Giften fertig, etwa dem der Bakterien Clostridium: Botulin, ein Gramm reicht theoretisch für eine Million Menschen. (Es macht starr, dadurch wurde das Gift ein Renner der Schönheitsindustrie: Botox.)

Geier schlucken es, ohne mit der Feder zu zucken, sie haben Antikörper entwickelt, das wusste man schon (BioOne 15, S. 3). Nun wurde es in der ersten Genom-Analyse bestätigt, in ihr hat Woon Kee Paek (Osong, Korea) Mönchsgeier mit Weißkopfseeadlern verglichen. Sie sind zwar selbst halbe Geier – haben sich erst vor relativ kurzer Zeit von ihnen abgespalten und heißen ihrer auch nackten Schädel wegen Bald Eagle –, aber der echte ist im Immunsystem viel besser gewappnet (Genome Biology 20. 10.).

Das half ihm nichts in den 1990er- Jahren in Indien, dort tauchte ein Gift auf, das für andere Tiere und Menschen gar keines war, im Gegenteil, es war ein Medikament, Diclofenac, es wird gegen Entzündungen eingesetzt, auch in der Tiermedizin. Aber wenn Geier einen Kadaver zerlegten, der es noch in sich hatte, gingen sie jämmerlich zugrunde, an Nierenversagen. Diclofenac wurde in Indien in der Tiermedizin verboten, aber die Geierbestände haben sich allenfalls leicht stabilisiert, das zeigte die letzte Zählung 2012 (PLoS One e49118), vermutlich greift das Verbot nicht recht.

Das war das erste große Sterben – die „asiatische Geierkrise“ –, nun ist das zweite im Gange, in Afrika. Es ist unauffälliger, und es hat viele Gründe: Geier werden gejagt, weil manche ihrer Körperteile Kraft bringen sollen, und Glück, wenn man sie verzehrt oder an die Hauswand oder um den Hals hängt: So befremdlich ist das nicht, andere Kulturen halten sich an getrocknete Hasenpfoten. Geier werden also gejagt, auch zum ganz normalen Essen, insgesamt kommen daher 30 Prozent der Verluste. Geier werden aber auch vergiftet, oft unabsichtlich, von Bauern, die Giftköder auslegen, um andere Bedrohungen loszuwerden: Löwen und Hyänen. Manche verwenden Gift aber auch gezielt, Wilderer: Kreisende Geier verraten Wildhütern leicht, wo gerade gewildert wurde. Alle Gifte zusammen tragen 61 Prozent zu den Verlusten bei, bilanziert Darcy Ogada vom Peregrine Fund (Conservation Letters 18. 6.).

61 Prozent vergiftet, 30 erjagt, und die restlichen neun? Sie gehen auf das Konto der Elektrizität: Stromleitungen und Windkraftwerke. Das ist nicht aus Tausendundeiner Nacht und nicht nur in Afrika ein Problem, auch auf dem Weg dorthin: An der Meerenge von Gibraltar ragen Windmühlen 170 Meter hoch. Dort ziehen im Herbst tausende Gänsegeier nach Süden. „Ein Rotorblatt zerschneidet sie“, weiß Marc Bechard: „Ich habe schon gesehen, wie sie enthauptet wurden“ (Nature 486, S. 310). Bechard ist Biologe, der im Auftrag der Kraftwerksbetreiber für Milderung sorgt, er behält die Geier im Auge: Kommen sie, legt man die Rotoren still.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 13.12.2015)

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