Das Werk Ernst Jandls, in Datensätze zerlegt

Ernst Jandl.
Ernst Jandl.(c) APA/MATTHIAS CREUTZIGER
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Noch fehlt die große Biografie Ernst Jandls. Jetzt ist eine neue interaktive Website online, die Literaturwissenschaftlern die Forschung dafür erleichtern und Jandl-Fans neue Zugänge eröffnen will. Sie enthält Werke Jandls genauso wie Werke über Ernst Jandl.

„Demokratie – unsere Ansichten gehen als Freunde – Auseinander.“ Das ist eines der bekanntesten und gleichzeitig hochaktuellen Gedichte des im Jahr 2000 verstorbenen österreichischen Dichters Ernst Jandl. Es ist auch das Lieblingsgedicht von Vanessa Hannesschläger. Sie hat seit September 2013 in einem Projekt des Ludwig-Boltzmann-Instituts (LBI) für Geschichte und Theorie der Biographie und des Österreichischen Literaturarchivs eine wissenschaftliche Onlineplattform über Leben und Werk Jandls konzipiert und umgesetzt. Die interaktive Website, die eine neue Form der Biografie ermöglicht, ist jetzt online.

Sie enthält in drei Modulen die Biobibliografie, eine Auflistung der Werke Ernst Jandls und ein Verzeichnis der Werke über Ernst Jandl. Im Vordergrund steht nicht das Leben des 1925 in Wien geborenen Dichters, sondern die Publikationsgeschichte seines Gesamtwerks. Dem digitalen Raum entsprechend präsentiert Hannesschläger die Informationen in Pixel zersplittert. Die Nutzer können darüber entscheiden, wie diese Pixel zusammengesetzt werden.

„Ich versuche, ein Narrativ zu vermeiden, indem ich das Werk ,Ernst Jandl‘ in Datensätze zerlegt und in den Modulen neu zusammengebaut habe“, erklärt Hannesschläger ihren Ansatz. „Ich hätte es als anmaßend empfunden, eine Auswahl zu treffen und so die Lebenserzählung nach meiner Wahrnehmung zu formen.“

Rückschlüsse auf Selbstbild

Vor allem Fachleute, aber auch Jandl-Liebhaber werden Interesse haben, anhand der online gestellten Typografien und Verweise zu untersuchen, wie sich bestimmte Textsorten im Lauf der Jahre entwickelt haben. Aus den unterschiedlichen autobiografischen Angaben lassen sich durchaus Rückschlüsse auf Jandls Selbstbild und Selbstdarstellung nach außen und auf sein Leben ziehen. So fällt Hannesschläger beispielsweise auf, dass der Dichter in seinen Biobibliografien erst ab 1969 „die Freundschaft mit Friederike Mayröcker seit 1954“ erwähnt. Ausschlaggebend dafür dürfte der Hörspielpreis der Kriegsblinden gewesen sein, den das Paar 1968 gemeinsam für das Hörspiel „Fünf Mann Menschen“ erhielt.

Mithilfe der Plattform können Interessierte die Publikationsgeschichte jedes einzelnen der 2025 Gedichte Jandls nachverfolgen. Man kann Texttypen, Veröffentlichungsdaten und involvierte Personen recherchieren. Sie sind entweder chronologisch, alphabetisch oder nach Textsorte geordnet erfasst. Anthologien, Zeitschriften und Zeitungen als Erst- oder späterer Erscheinungsort sind ebenso berücksichtigt wie Kommentare und Rezensionen sowie zahllose literaturwissenschaftliche Arbeiten.

Als besonders hilfreich hat sich dafür der Nachlass erwiesen, der sich in 56 Archivboxen an den Wänden in Hannesschlägers Büros stapelt. Jandl selbst hat akribisch alle ihn betreffenden Veröffentlichungen gesammelt und aufgehoben.

Als Mitglied der Grazer Autorenversammlung und aufgrund seines engen Kontakts zur avantgardistischen Wiener Gruppe um H. C. Artmann galt Jandl als kulturpolitisch kritisch einzuordnen. „Doch mit zunehmendem Erfolg kann man erkennen, dass die vom Autor getroffene Wahl der Zeitschriften nicht unbedingt ideologisch motiviert ist, sondern oft in den eingeschränkten Publikationsmöglichkeiten der frühen experimentellen Literatur begründet ist“, erklärt Hannesschläger das breite Spektrum der Publikationen, in denen Jandls Werk erschienen ist.

Etwa veröffentlichte die Zeitschrift „Neue Wege“, die im Unterricht genutzt wurde, bis 1957 viel von Jandl. Seine Sprechgedichte zogen jedoch den Unmut vieler österreichischer Lehrer auf sich. Jandl wurde dort nach 1957 laut Hannesschläger nicht mehr gedruckt.

Effizienter Netzwerker

Da der gelernte Lehrer zu Lebzeiten ein ausgesprochen effizienter Netzwerker war, finden sich im Nachlass viele Bezüge auf andere Personen. Soweit sie mit der Publikation seiner Werke zu tun hatten, hat Hannesschläger sie aufgenommen. Sie geben Einblick in die österreichische Literaturgeschichte.

Viele Arbeiten des Laut- und Sprechdichters Jandl sind als Audio- oder Videodokumente zugänglich. Links ermöglichen, sie anzuhören und anzuschauen.

Lexikon

Eine Biobibliografie ist ein Text über Leben und Werk einer schreibenden Person. Er wird in Personenlexika, in Büchern und in Zeitschriften zu dem dort abgedruckten und von der Person verfassten Text gestellt. Biobibliografien enthalten meist Informationen zu Lebensdaten, veröffentlichten Werken, erhaltenen Preisen und wichtigen Leistungen.

Virtuelle Biografik ist eine Forschungsprogrammlinie des LBI für Geschichte und Theorie der Biographie. „Ernst Jandl online“ ist verfügbar unter:
http://jandl.onb.ac.at

("Die Presse", Print-Ausgabe, 06.02.2016)

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