Auch die Ärmsten bei Stadtplanung berücksichtigen

Bauen.Der soziale Wohnbau in Österreich als Vorbild für indische Slums? Erfahrungen mit Migration und nachhaltigem Bauen könnten genutzt werden, um Siedlungen besser zu planen. Ein EU-Projekt dazu hat eben begonnen.

Rangan, ein Bewohner der indischen Metropole Chennai, reißt die provisorische Holzkonstruktion, die ihm bisher als Wohnung gedient hat, nieder. Stattdessen errichtet er Ziegel für Ziegel neue, feste Mauern. Seine Lebenssituation würde es ihm ermöglichen, den Slum namens Kalyanam Puram zu verlassen. Doch er bleibt. „Viele machen es wie Rangan. Der soziale Zusammenhalt ist ihnen sehr wichtig. Sie renovieren die Häuser und verbessern so ihr Wohnviertel“, erklärt Patrick Sakdapolrak, Geograf am Institut für Geographie und Regionalforschung der Uni Wien.

Erfahrungen wie diese, die sein Team bei empirischen Erhebungen in Slumsiedlungen in Chennai machte, verdeutlichen: Gerade für die Wohnbevölkerung in sogenannten informellen Siedlungen sind soziale Aspekte enorm wichtig. Sie finden dort billigen Wohnraum, Netzwerke, erschwingliche Waren und Dienstleistungen und leben nahe an ihren Erwerbsmöglichkeiten. Allerdings steht Indien wegen der zunehmenden Verstädterung vor dem Problem der „Urbanisierung von Armut“. Dem will die Regierung entgegensteuern und Städte nachhaltiger machen. Heimische Wissenschaftler helfen nun mit, die künftigen Stadtplaner dafür zu sensibilisieren.

Sozialer Wohnbau als Vorbild

Denn eine Stadtplanung, die auch die Ärmsten integriert, ist in Indien Neuland. Bisher standen der Wunsch nach Abgrenzung und die Sorge um den sozialen Status im Weg. Nun sollen die Gräben langsam überwunden werden. Als Vorbild dient der soziale Wohnbau, wie er etwa in Österreich, Schweden oder den Niederlanden umgesetzt wird. Praktische Erfahrungen, ergänzt um wissenschaftliche Expertise mehrerer europäischer Universitäten bilden die Basis für das Erasmus+-Projekt „Building Inclusive Urban Communities.“

Tania Berger, Architektin vom Department für Migration und Globalisierung der Donau-Uni Krems, koordiniert das dreijährige Projekt, das kürzlich startete. Inhaltlich stehen informelle Siedlungen wie etwa Slums im Fokus. Die Forscher widmen sich Fragen wie sozialer Inklusion, Nachhaltigkeit, partizipativer Kartierung oder Umweltrisikomanagement. Beteiligt sind zudem die Universiteit Twente, die Lunds Universitet und vier indische Partnerunis, u. a. aus Mumbai.

Die drei europäischen Unis bringen für ihren jeweiligen Schwerpunkt – Risk-Management, Geo-Informatics, nachhaltiges Bauen und Migrationsprozesse – umfassendes Wissen mit. Dass die Wartung von Wohnhausanlagen samt ihrer technischen und sozialen Infrastruktur ein Kernproblem darstellt, ging aus Vorstudien hervor. „Für uns ist es eine große Herausforderung, unser Wissen, etwa zu Materialökologie oder Energiemanagement, auf den informellen Bereich zu übertragen. Das hat auch für uns einen großen Lerneffekt“, sagt Berger. Umgekehrt seien die indischen Experten von der sozialen Durchmischung und der gut ausgebauten Infrastruktur im sozialen Wohnbau in Wien beeindruckt gewesen.

Studium in Indien erneuern

Um das Konzept für Indien zu adaptieren, sind in den nächsten Jahren Fallstudien geplant. Die europäischen Unis unterstützen ihre Partner methodisch und inhaltlich. Die Forschungsergebnisse sollen bis 2018 aber nicht nur in eine gemeinsame Publikation einfließen. Darauf aufbauend sollen Teile des Curriculums für das indische Architekturstudium erneuert werden – erstmals werden damit Aspekte der sozialen Funktion informeller Siedlungen integriert.

„Architekten fokussieren oft sehr auf das fertige Gebäude als Ergebnis ihrer Arbeit. Dabei ist ein Haus eigentlich ein jahrzehntelanger ,Behausungsprozess‘. Soziale Interaktion spielt eine zentrale Rolle“, so Tania Berger. Für künftige Generationen könnten die Chancen also besser stehen, dass ihnen lebenswertes Wohnen – auch im Slum – ermöglicht wird.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 05.03.2016)

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