Wir sind für unsere Emotionen verantwortlich

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Philosophie. Wie eine Situation moralisch eingestuft wird, hängt nicht nur vom Wissen ab, sondern von vielen Persönlichkeitsmerkmalen. Dem Prozess der moralischen Wahrnehmung ist eine Grazer Philosophin auf der Spur.

Manche fordern Zäune und Obergrenzen, um den Flüchtlingsströmen Einhalt zu gebieten, sie fürchten, dass die europäische Kultur leiden würde. Andere maßregeln dies als menschenverachtend. Die einen malen ein infernales Chaos an die Wand, die anderen feiern die kulturelle Bereicherung – unterschiedlichere Zugänge zur Flüchtlingsproblematik könnte es nicht geben. Beide Einschätzungen basieren auf den gleichen Bildern: flüchtenden Menschen mit all ihrem Elend. Die Ethikerin Sonja Rinofner-Kreidl vom Institut für Philosophie der Universität Graz untersucht, wie es zu unterschiedlichen moralischen Wahrnehmungen kommt.

„Wir nehmen in einer Situation nicht nur Bilder, Geräusche und Gerüche wahr, sondern auch die moralische Dimension, beispielsweise ob jemand gedemütigt oder beleidigt wird“, erklärt Rinofner-Kreidl. Der moralische Sachverhalt ist jedoch vielschichtiger als die reinen Sinneseindrücke. Die Grazerin untersucht, von welchen Faktoren die Art der Wahrnehmung bestimmt wird und welchen Nutzen sie für unser Erkennen und Handeln hat. Warum wird dieselbe Situation von zwei Menschen moralisch unterschiedlich interpretiert?

„Wir sehen, was wir erwarten“

„Wir nehmen nicht nur verschiedene Aspekte zur Kenntnis, wir gewichten sie auch unterschiedlich, da unsere Eindrücke von komplexen Faktoren unserer eigenen Persönlichkeit beeinflusst werden“, so die Philosophin. Die Kultur, in der wir sozialisiert wurden, spielt dafür genauso eine Rolle wie unser Alter und unser Geschlecht. Unsere Lebenserfahrungen, unser Wissen, ja unsere Biografie spiegelt sich in moralischen Urteilen wider. „Ein junger Mensch mit Universitätsabschluss wird die Flüchtlingsthematik ganz anders bewerten als ein älterer Mensch, der sein Leben lang mehr oder weniger in ein und derselben Umgebung verbracht hat.“ Man könnte es so zusammenfassen: „Wir sehen, was wir erwarten.“

Die Phänomenologie, der Arbeitsschwerpunkt der Grazer Philosophin, beschreibt, wie sich ein Subjekt zur Welt hinwendet, indem es einzelne Aspekte der erscheinenden Wirklichkeit selektiv herausgreift. Die Welt erscheint uns so, wie wir uns in ihr ins Spiel bringen. Wir haben von uns ein Bild als moralisches Subjekt, wir empfinden uns etwa als hilfsbereit und couragiert oder als ängstlich, misstrauisch und missachtet.

Dieses Selbstbild prägt wiederum unsere moralische Wahrnehmung. „Das hat auch sehr viel mit unseren Emotionen zu tun, die sich als spontane Reaktionen auf Umweltgegebenheiten häufig unserer Kontrolle entziehen. Emotionen signalisieren positive oder negative Betroffenheit und machen insofern eine rein objektive moralische Wahrnehmung unmöglich. Als emotionsgetragen funktioniert moralische Wahrnehmung nach dem Prinzip ,Tua res agitur‘ – dich geht es an, deine Sache wird verhandelt. Hier nach einem strengen Ideal wissenschaftlicher Objektivität zu suchen, wäre verfehlt.“ In der Geschichte der philosophischen Ethik war die moralische Wahrnehmung bis vor Kurzem kein zentrales Thema. So argumentiert etwa die kantische Ethik, dass ein Handeln nur dann moralisch zulässig sei, wenn die ihr zugrunde liegende Regel verallgemeinerungsfähig sei. Eine kontext- und personenabhängige moralische Wahrnehmung ist dabei untergeordnet.

Emotionsforschung boomt

Dass die moralische Wahrnehmung heute verstärkt Beachtung findet, ist auch ein Effekt der boomenden empirischen Emotionsforschung, etwa in der Psychologie, Psychiatrie und Soziologie. Mittlerweile fragen auch Philosophen, inwieweit Emotionen in der Erkenntnistheorie relevant sind. „Wenn wir uns als moralfähige Wesen sehen, müssen wir unsere Emotionen reflektieren und uns zutrauen, auf diese einwirken zu können.“ Wir sind daher nicht nur für unsere Handlungen, sondern auch für unsere Emotionen verantwortlich.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 12.03.2016)

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