Psychologie: Wenn Schnee rot wäre

Schnee auf dem Groszen Arber
Schnee auf dem Groszen ArberAPA/dpa/Armin Weigel
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Lawinen- und Suchtforscher analysieren den Rausch, den Tiefschnee auslösen kann, und wagen ein Gedankenexperiment: Hätte Schnee eine andere Farbe, wäre unsere Risikobereitschaft geringer, die Unfallgefahr kleiner.

Dass die Inuit angeblich mehr als 100 Worte für Schnee haben, ist ein weitverbreiteter Irrtum. Tatsächlich sind es nicht mehr als in anderen Sprachen, aber Zusammensetzungen wie „fallender Schnee“ gelten in den Inuit-Sprachen als ein eigenes Wort. Die deutsche Sprache stellt diese Wortvielfalt durchaus in den Schatten, mit Begriffen wie Firn, Gries, Harsch, Sulz, Pulver, Trocken-, Nass-, Frühjahrs-, Kunst- und Triebschnee. Dazu kommen Eigenschaften wie trocken, nass, kalt, warm, weich, hart, eisig, aggressiv, windverfrachtet oder staubend. Jüngst gelangte gar der Begriff des toten Schnees zu medialer Berühmtheit. So nennt man ihn, wenn ihn die Temperatur so in Mitleidenschaft gezogen hat, dass er sich nur mehr durch einen nicht flüssigen Aggregatszustand vom Wasser unterscheidet. Sich aber allen mechanischen oder chemischen Bemühungen, ihn noch als gleitfähigen Untergrund für den Wintersport zu retten, entzieht.

Nicht selten wird der frisch gefallene Schnee mit flauschigen Daunendecken verglichen, der sich über Häuser, Sesselliftanlagen und Bäume legt. Das zeigt, wie sehr wir das kalte Element mit dem kuscheligen Aufgehobensein im warmen Bett verbinden. „Schnee ist weiß, rein und eine Projektionsfläche – auch für unsere Träume und Ideen“, sagt der deutsche Wander- und Tourenguide Jan Mersch. Aber er kann uns eben auch blind machen, blind für Gefahren. Denn frisch gefallener, sogenannter „Powder“-Schnee lässt Skifahrer und Bergsportler schneller die Vernunft ausschalten. „Die Lawine weiß nicht, dass du Experte bist“, so lautet eine gängige Warnung. Denn die meisten Lawinenopfer sind nicht bei besonders gefährlichen Schneelagen zu beklagen, sondern wenn nach Schlechtwettertagen die Sonne zu Leichtsinn verführt.

Ist der Tiefschneerausch sogar eine Sucht? „Rausch ist gesuchter Exzess, möglichst ekstatisch. Und der ist beim Skifahren, entsprechendes Können vorausgesetzt, durchaus zu erreichen. Nicht nur im Tiefschnee“, sagt Gerichtspsychiater und Suchtforscher Reinhard Haller. Aber schon präparierte Pisten können zu einem Geschwindigkeitsrausch einladen; bei Tourengehern kann es wiederum zu einem narzisstischen Höhenrausch kommen. „Er macht mich über alles erhaben, wie schon in der griechischen Mythologie mit Ikarus dargestellt“, sagt Haller. Egal, ob der Sonne oder dem Eis zu nahe, gottähnlich abzuheben ist stets bedrohlich.


Lawinen lassen sich nicht kontrollieren. Für den Deutschen Alpenverein erforscht Mersch, was Menschen dazu bringt, für in der Natur erhoffte Glücksgefühle ihr Leben aufs Spiel zu setzen. „Wir sind gewohnt, aus Fehlern zu lernen. Bei Lawinen ist das schwer, denn in einer Lawinensituation wissen wir nie, ob wir die richtige Entscheidung getroffen haben – oder nur Glück hatten.“ Was Mersch damit meint: Niemand weiß, wie nah er an der Lawinenauslösung war. Ein Schritt weiter rechts oder zehn Minuten später – und der Schnee wäre vielleicht ins Rutschen geraten. Der Wintersportler wertet sein Verhalten somit eher als erfolgreiche Risikoabwägung, statt als das, was es meist ist: Glück.

Schnee lässt in seinem massivsten Auftreten einfach keine Möglichkeit, aus seinem Fehler zu lernen. Wäre der Schnee rot, wäre die Risikobereitschaft geringer, ist Mersch überzeugt. Die Gefahr verberge sich hinter dem unschuldigen Weiß, die Farbe der Ruhe, Neutralität und Reinheit steht für das exakte Gegenteil von Gefahr. „Das geile Erlebnis ist präsent, die Lawine kaum,“ konkretisiert er. Durch die verborgene Gefahr trete psychologisch verstärkend eine Rückkopplung auf. Wurde keine Lawine ausgelöst, bestärkt es die Menschen, das nächste Mal noch mehr zu riskieren. Bei der Risikobereitschaft bestehe keinerlei Unterschied zwischen Anfängern und Experten. Sind die vier Elemente der Entscheidungsbasis – Regel, Intuition, Distanz und Wissen – fundierter, werden die Möglichkeiten nur intensiver ausgereizt.

Süchtig nach Schnee könne man nur sprichwörtlich werden, meint Haller. Medizinisch hält also die Ausrede nicht, man habe der Arbeit fernbleiben müssen, um einen Tag auf der Piste verbringen zu können. „Rausch ist nichts weiter, als ein starker Genuss, bei dem man sein Bewusstsein erweitert, sich kurzzeitig ver-rückt fühlt, und es hat manchmal etwas Religiöses. Sucht ist zwanghaft und kein Genuss mehr.“ Das Rauscherlebnis sei im Tiefschnee nicht leicht reproduzierbar. So muss sich beispielsweise der Tourengeher seinen Serotoninanstieg hart erarbeiten.

Ein großes Gefahrenpotenzial sieht Haller im Wintersport am ehesten beim Geschwindigkeitsrausch auf der Piste: „Prinzipiell gibt es keinen ungefährlichen Rausch. Aber im Grunde ist das Bewegen in der Natur eine unserer letzten Bastionen uneingeschränkter Eigenverantwortung und Freiheit.“


Leuchtende Augen. Eine Begeisterung und Leidenschaft wie beim Thema Skifahren ist von kaum einem anderen Forschungsthema bekannt, stellen die Autoren einer morphologischen Studie fest, die die Österreich Werbung jüngst in Deutschland durchführen ließ. „In den psychologischen Ausführungen wurde eine aktive, fast jugendliche Dynamik entwickelt, die sich durch große Erzählbegeisterung und leuchtende Augen manifestierte“, heißt es in der Ergebnisanalyse.

Egozentrik und Realitätsleugnung, das seien weitere Folgen dieser Leidenschaft, wobei Frauen in ihrer Begeisterung Männern nicht nachstanden. Auch wenn Frauen der Vernunft offenbar noch eine größere Chance geben. Nur zwölf Prozent aller Lawinenopfer sind weiblich. Unter die Lawine geraten überwiegend 30- bis 60-jährige, gut ausgerüstete Männer.

Und generell muss man relativieren: Insgesamt sterben in Österreich im Schnitt pro Winter rund 20 Menschen unter Schneemassen, während Hunderttausende den Mühen des Winters in der Großstadt entfliehen, um im Skiurlaub Schnee und Kälte als Freude zu erleben. Wäre der Schnee rot, gäbe es vielleicht weniger Lawinenopfer, aber vermutlich auch weniger winterbegeisterte Touristen.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 27.03.2016)

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