Die beiden Zeigefinger stehen für den Algorithmus

Gebärdensprache
Gebärdensprache(c) Die Presse - Clemens Fabry
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In einem Wiener Uni-Projekt wird ein wissenschaftliches Online-Lexikon für Gehörlose erarbeitet. 2000 Fachvokabeln von A wie Aberglaube bis Z wie Zytosol sind bis jetzt übersetzt und werden in Videos gezeigt.

„Bitte nicht das Wort taubstumm verwenden.“ Mit ihrem Appell verweist Karin Cech, eine der Sprecherinnen des Österreichischen Gehörlosenbunds auf die Assoziationen, die mit diesem Unwort verbunden sind. Mit taubstumm werde die Sprachlosigkeit der Betroffenen vermittelt, „sie haben aber eine Sprache, eben die Gebärdensprache“. Und seien zudem oft nicht stumm. Gerade die jüngere Generation würde taubstumm als eine Diskriminierung empfinden.

In Österreich wurde die Gebärdensprache am 1. September 2005 in der Bundesverfassung als „eigenständige Sprache“ ausdrücklich anerkannt, seit 2009 werden Nationalratssitzungen simultan in die Gebärdensprache übersetzt. Es gibt circa 100, zum Teil in Teilzeit tätige Gebärdendolmetscher. Seit 2011 haben die Wiener Universitäten und Fachhochschulen mit einem vom Wissenschaftsministerium geförderten Projekt eine weitere Etappe eingeleitet: Es wird für die Gebärdensprache eine Art Lexikon für Fachbegriffe aus verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen erarbeitet – ein Vorhaben, dessen Abschluss noch nicht absehbar ist.

Federführend ist die TU Wien mit ihrer Servicestelle Gestu, was „gehörlos erfolgreich studieren“ bedeutet. Es wurden für die unterschiedlichen Disziplinen Arbeitsgruppen eingerichtet, denen Fachwissenschaftler, Gebärdendolmetscher und nach Möglichkeit auch Gehörlose angehören, sagt die Behindertenbeauftragte der TU Wien, Marlene Fuhrmann-Ehn.

Erleichterung für das Studium

Mit dem Projekt sollen gehörlose Studierende und Schwersthörige unterstützt und es soll ihnen auch die Möglichkeit für eine weitere wissenschaftliche Tätigkeit eröffnet werden. Gibt es für einen Fachbegriff keine eigene Gebärde, müsste man dieses Wort buchstabieren, „und das ist auf Dauer keine befriedigende Lösung“, sagt Fuhrmann-Ehn. In den Fachgruppen wird diskutiert, welche sinnvolle Gebärde zu einem Fachausdruck passen kann. „Unser Ziel ist, dass die Gebärdensprache auch im Bildungsbereich anerkannt ist.“

Derzeit sind knapp 2000 Fachbegriffe übersetzt. Von A wie Aberglaube und Algorithmus reicht das Lexikon der Fachgebärden bis Z wie Zwitter und Zytosol. Auf http://fachgebaerden.tuwien.ac.at ist jedes Wort abgebildet. Bei Algorithmus etwa kreist der Zeigefinger der rechten Hand rund um den ausgestreckten Zeigefinger der linken Hand. Es sind ebenso die jeweils neuesten Übersetzungen angeführt, sodass sich Benutzer über die Weiterentwicklung des Sprachlexikons informieren können.

Ständig neue Fachausdrücke

Es sind auch 21 Worte verzeichnet, für die noch keine Videos entwickelt wurden. „Helfen sie mit, Gebärden für diese Begriffe zu finden“, heißt es auf der Homepage. So wird beispielsweise für Immunantwort, Tuberkulose und Tumorzelle eine Gebärde gesucht. Damit wird offenkundig, dass stets weitere Fachbegriffe auftauchen.

Ein Manko der Gebärdensprache ist, dass jede einzelne Sprache und oft jeder Dialekt über eine eigene Gebärdensprache verfügt. Auch die österreichische Gebärdensprache unterscheidet sich von der deutschen grundlegend. So kann das von der TU Wien geleitete Projekt nur für die wissenschaftlichen Institutionen in Wien Akzeptanz und Gültigkeit beanspruchen.

IN ZAHLEN

10.000 Menschen werden in Österreich als gehörlos bezeichnet. Bis zu 500.000 gelten als schwerhörig.

2000 Wörter aus der wissenschaftlichen Fachsprache wurden bisher in die Gebärdensprache übertragen.

100 Dolmetscher sind in Österreich als Übersetzer für die Gebärdensprache tätig. Es handelt sich um eine ungefähre Angabe, ein genaues Verzeichnis existiert nicht.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 21.05.2016)

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