Eine „Denkmaschine“ für Holger

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Symbolbild(c) Die Presse (Clemens Fabry)
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Für autistische Kinder hat Technologie meistens eine assistierende Rolle, um sich in unserer Welt zurechtzufinden. Forscher der TU Wien wollen nun auch zu den Wünschen und Ideen der Kinder durchdringen.

Der Prototyp für seine „Denkmaschine“ ist zwar nicht für den Massenmarkt tauglich – durch den Entwicklungsprozess des „smarten Dings“ hat der sechsjährige Holger (Name geändert) gemeinsam mit Forschern der TU Wien aber Neues erfahren: Assistierende Technologien können Spaß machen und sich in seine Welt integrieren.

Holger hat das Asperger-Syndrom, eine Form von Autismus. Wegen der Wahrnehmungs- und Informationsverarbeitungsstörung leben Kinder wie Holger, aber auch Lukas, der frühkindlichen Autismus hat, oder der achtjährige Thomas mit atypischem Autismus in ihrer eigenen Welt. Die einzige Funktion von existierenden Technologien ist meist, Schwächen in puncto Sprache oder soziale Interaktion auszugleichen. Apps unterstützen etwa bei der Interpretation von Gesichtsausdrücken.

Ohne Frage handelt es sich dabei um sinnvolle technologische Lösungen. Das Forscherteam des Instituts für Gestaltungs- und Wirkungsforschung der TU Wien rund um Computerwissenschaftler Christopher Frauenberger stellt diese Sichtweise auf den Kopf: „Wir denken, dass ein vielfältiger Gestaltungsraum unbeachtet blieb, und fragten uns, was passiert, wenn wir uns bei der Technologieentwicklung auf ihre Lebenswelt einstellen, statt Defizite ausmerzen zu wollen.“

Holger zählt zu jenen zwölf autistischen Kindern zwischen sechs und acht Jahren aus vier Wiener Volksschulen, mit denen das Forscherteam im Projekt „Outside the Box. Rethinking Assistive Technologies with Children with Autism“ gemeinsam an „smarten Dingen“ aus und für ihre individuelle Lebenswelt arbeitet.

Mit ihnen in den partizipativen Designprozess zu gehen ist jedoch schwierig. Die Forschenden holen die Kinder deshalb bei ihren Spezialinteressen ab und testen seit 2014 jährlich mit vier Kindern eine neue Methode, von Schauspiel über Digital Fabrication bis zu Zauberei. „So wollen wir gemeinsam mit den Kindern in Gestaltungsräume vordringen, die wir Nichtautisten uns nicht vorstellen können“, betont Frauenberger.

Autismus und Kreativität

Wie bei Holger: Sein Spezialinteresse ist das Forschen. Immer wieder gerät er in Situationen, in denen er sich überwältigt fühlt, sich danach aber an nichts erinnert. Der Prototyp für das „smarte Ding“, sprich die „Denkmaschine“, wurde als tragbare Apparatur konzipiert, welche die Situation via Sensor und Kamera aufnimmt. Ist alles vorbei, kann Holger anhand der Bilder erforschen, was los war.

Zwölf Fallbeispiele sind bis zum Projektende 2017 anvisiert. Die Prototypen, die im Lauf eines Schuljahres entstehen, geben Einblick, welches Spektrum an Gestaltungsmöglichkeiten sich eröffnet, wenn es gelingt, autistische Kinder einzubeziehen. „Autismus und Kreativität sind auf den ersten Blick nicht kompatibel“, so Frauenberger, „aber wir haben festgestellt, dass jedes autistische Kind sehr kreativ sein kann, wenn man die richtigen Voraussetzungen dafür schafft.“ Im Fokus steht also der Weg, sprich, wie der partizipative Prozess gestaltet sein könnte.

Dafür will das Team anhand der umfassenden Daten sowie der Fallbeispiele den Grundstein legen. Bisher zeigte sich, dass allein das Umdenken weg vom Lern-Tool hin zu Spaß und Lebensweltbezug bewirkte, dass autistische Kinder den Technologien neue Rollen zuschreiben und sich als aktive Gestalter wahrnehmen.

LEXIKON

Autismus ist eine angeborene Wahrnehmungs- und Informationsverarbeitungsstörung des Gehirns. Am häufigsten sind der frühkindliche Autismus (Kanner-Syndrom), das Asperger-Syndrom und atypischer Autismus. Charakteristisch sind Schwierigkeiten im sozialen Miteinander, bei der Verständigung sowie Spezialinteressen und stereotypes Verhalten. Die Grenze zwischen Autismus und Nichtautismus ist fließend.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 11.06.2016)

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