In gekrümmter Raumzeit rechnen

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Mathematik. Schnitte in der Raumzeit, in denen alles Vergangene und alles Zukünftige enthalten sind, lassen sich mit Methoden berechnen, die schon in der Antike bekannt waren.

Welche Form schließt bei fest gegebenem Umfang den größten Flächeninhalt ein? Das ist eine mathematische Frage, in der Fachsprache Isoperimetrie genannt, mit der sich die Menschheit bereits seit Tausenden Jahren beschäftigt. Vergil berichtet in seiner Erzählung „Aeneis“ von der phönizischen Königin Dido, die an der Nordküste Afrikas so viel Land erhält, wie sie mit aus einem Stück Ochsenfell geschnittener Schnur einfassen kann. Indem sie den Grundriss ihrer Stadt Karthago kreisförmig und damit bestmöglich anlegt, wird Dido zu einer der ersten großen Heldinnen der Geometrie.

Nun ist es nicht möglich, eine Schnur aus Ochsenfell in dreidimensionale Schnitte von Raumzeiten zu legen, mit denen Albert Einstein vor 100 Jahren in seiner Allgemeinen Relativitätstheorie die Gravitation erklärt hat. Michael Eichmair, Mathematiker der Universität Wien und frisch gekürter mit 1,2 Millionen dotierter Start-Preisträger des Österreichischen Wissenschaftsfonds (FWF), versteht es, Didos geometrisch-mathematische Grundlagen dennoch auf Einsteins Theorie anzuwenden: Der 1983 geborene Vöcklabrucker, der bereits am University College London, an der Stanford University (USA), dem Massachusetts Institute of Technology (USA) und an der Eidgenössischen Technischen Hochschule (ETH) Zürich tätig war, steht damit an der Schnittstelle von Geometrie und Allgemeiner Relativitätstheorie. Zum Start-Preis sagt er: „Ich fühle mich zugleich geehrt und der Gesellschaft gegenüber verpflichtet, das Geld sinnvoll einzusetzen.“

Von Dido zu Einstein

Dido half der Umstand, dass die Erdoberfläche gekrümmt und nicht flach ist. Diese positive Krümmung ist dadurch charakterisiert, dass eine kleine Scheibe – also die Menge all jener Punkte, die innerhalb einer gegebenen Distanz von einem festen Punkt liegen – ein wenig mehr Fläche einschließt als eine flache, nicht gekrümmte, Scheibe gleichen Umfangs. Didos Karthago wurde, dank der positiven Krümmung, größer. Oder mathematisch ausgedrückt: Das isoperimetrische Problem im Kleinen bevorzugt die positive Krümmung.

Albert Einstein erkannte, dass Gravitation, also das, was unbeschleunigte Körper lenkt, besser nicht durch Kraft, wie noch von Isaac Newton beschrieben, zu erklären ist. Nach Einstein ist Gravitation die Konsequenz der Krümmung von Raum und Zeit (daher Raumzeit). In gekrümmten Räumen kann man sich die natürliche Frage nach Isoperimetrie stellen. Genauer betrachtet man Momentaufnahmen der Raumzeit, sogenannte raumartige Schnitte, in denen zumindest theoretisch alles Vergangene und alles Zukünftige – in der Fachsprache als Anfangsdaten bezeichnet – enthalten sind. „Die optimalen Formen für das isoperimetrische Problem im Großen werden im Allgemeinen dort ganz anders aussehen als im flachen Raum“, erklärt Eichmair. Dieses Anders-Sein kodiert dabei ganz wichtige Informationen über die Raumzeit.

Die Krümmung verbindet

Der Zusammenhang zwischen Raumzeit und Didos isoperimetrischem Problem ist eine Metapher, die sich im Lauf der vergangenen 20 Jahre in vielen Arbeiten abgezeichnet hat und durch die Beiträge von Eichmair und seinen Mitarbeitern immer deutlicher wird. „Die Probleme der Relativitätstheorie sind derart komplex, dass wir noch weit davon entfernt sind, sie zu unserer Zufriedenheit zu verstehen“, sagt Eichmair. Dank des Start-Preises werden sich er und sein Team darum bemühen können, raumzeitliche Brücken zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zu schlagen: Die Forscher erkennen immer mehr, dass es einen tiefliegenden Zusammenhang zwischen den physikalischen Eigenschaften der Raumzeit wie etwa ihrer Masse, ihrem Massezentrum auf der einen Seite und dem geometrisch-isoperimetrischen Problem im Kleinen wie im Großen für die Anfangsdaten der Raumzeit auf der anderen Seite gibt.

Noch gibt es wenige Kollegen, mit denen sich Eichmair in Österreich austauschen kann. Der Bereich ist im Aufbau begriffen. Einen bescheidenen Wunsch hegt er jedoch jenseits der Förderungen: „Es wäre schön, wenn die österreichische Gesellschaft auf ihre Forscher ähnlich stolz wäre wie zum Beispiel auf ihre Skispringer.“

LEXIKON

Albert Einstein eilte mit der Allgemeinen Relativitätstheorie der Praxis teils voraus. Die vor Kurzem beobachteten Gravitationswellen sah er bereits vor 100 Jahren mathematisch-geometrisch voraus. Er entwickelte seine Theorie aber, um physikalisch-astronomische Beobachtungen, etwa die Drehung der Bahnellipsen des Planeten Merkur, zu erklären. Das gelang ihm mit der bis dahin gängigen Gravitationstheorie von Isaac Newton nicht.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 18.06.2016)

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