Beim Schulweg lernen: Big Mother is watching you

Schulkinder im Verkehr
Schulkinder im Verkehr(c) APA (SCHLAGER R.)
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Erziehungswissenschaften.Kinder lernen nicht nur im Klassenzimmer, sondern auch auf dem Weg zur Schule. Doch diesen legen sie aus elterlicher Sorge meist motorisiert zurück. Was sie dabei versäumen, zeigt ein Grazer Projekt.

Morgens, 7.15 Uhr in Österreich. Vor einer Volksschule in einer Großstadt brummen die Motoren von Geländewagen. Aus den hohen SUVs steigen die Sechs- bis Zehnjährigen. Mit der geringst möglichen Zahl an Schritten schleppen sie sich ins Klassenzimmer. Um 7.45 Uhr ist die SUV-Stampede vorbei. Die Kinder sitzen in verschlossenen Räumen. Die Eltern sind erleichtert: Wieder ein Tag, an denen ihren Kindern auf dem Schulweg nichts passiert ist – gar nichts.

Der Weg zur Schule ist gefährlich. Er ist aber auch ein Raum, in dem Kinder die Welt begreifen lernen. Davon ist Rudolf Egger vom Institut für Erziehungs- und Bildungswissenschaften der Universität Graz überzeugt. In einem Projekt, das er gemeinsam mit Sandra Hummel vom Institut für Pädagogische Professionalisierung an die Stadt Graz herantrug und das von dieser finanziert wurde, wollten die Forscher genau wissen, was Kinder wo und wie lernen. Wie finden sie sich in einer Infrastruktur zurecht, die „eigentlich permanent gegen sie und für das Verhalten von Erwachsenen ausgerichtet ist“, sagt Egger.

Die Forscher arbeiteten mit Lehrern, Eltern und Schülern der Grazer Volksschulen Schönau und Ursulinen zusammen. Mit ihnen veranstalteten sie Workshops, führten Interviews und ließ die Kinder, ausgerüstet mit einer Kamera, Fotos ihres Schulweges machen. Zudem zeichneten die Schüler diesen und malten, wovor sie im Straßenverkehr Angst haben. Die Ergebnisse sind mitunter erstaunlich: So hat etwa ein Achtjähriger innerhalb einer Woche 80 Verbotsschilder fotografiert und sonst nichts. „Dieses Beispiel zeigt, dass Kinder soziale Realität hochgradig verdichtet wahrnehmen. Und dass es eben ganz wenig Bewegungsflächen für sie gibt“, sagt Egger.

Dabei seien die Flächen wichtig, weil Kinder dort lernen, wo sie leben und sich bewegen. Diese Lernwelt wird aber massiv eingeschränkt, wenn sie mittels elterlichem Taxiservice zur Schule gebracht werden: Eine Verkehrserziehung fehlt ihnen dadurch völlig.

Handy-Ortung der Kinder

Die Studie zeigte den Forschern zwei Dinge: Erstens ist die Mittelschicht extrem daran orientiert, ihre Kinder vor Gefahren schützen zu wollen. Diese Helikopter-Eltern installieren sogar Apps in den Handys der Volksschüler, damit sie diese ständig kontrollieren können und wissen, wo sich ihre Kinder aufhalten: „Big Mother is watching you“, sagt der Forscher. Zweitens gibt es aber eine große Kluft zu denjenigen Eltern, die überhaupt nicht wissen, wo ihre Kinder sind. Diese Kluft können die Forscher nicht schließen. Mit ihrer Studie wollen sie ein Bewusstsein dafür schaffen, dass der Schulweg auch ein Erlebnisweg ist, und dieser daher auch zum Thema gemacht werden sollte: Eltern können etwa den Weg mit den Kindern bewusst abgehen, sich blind stellen und sich dann den Weg von den Kindern genau beschreiben lassen. Damit können sich die Erwachsenen in ihre Welt begeben und ihnen genau zuhören.

Den Kindern zuhören und ihnen mehr zutrauen ist ohnehin zentral: Denn das eigenständige Bewältigen des Schulwegs steigert auch ihr Selbstvertrauen. Wie das einer achtjährigen Schülerin, die einmal mit der Straßenbahn eine Station zu weit fuhr, danach die 400 Meter Strecke zu Fuß zurücklegte und darauf sehr stolz ist. Ihrer Mutter erzählte sie die Geschichte nicht, aus Angst, nie mehr allein zur Schule zu dürfen. (por)

LEXIKON

Die Lernweltforschung geht davon aus, dass Schüler nicht nur in formalisierten Umgebungen, wie in der Schule, in Seminaren oder der Universität, lernen. Kinder erobern und begreifen die Welt dort, wo sie sich bewegen. Das sind oft kleine Räume, etwa der Schulweg, das gemeinsame Essen am Küchentisch oder Busfahrten. Erwachsene sind hier ihre Vorbilder. Im Unterricht sollte dieser Realkontakt mit der Welt in Form von Zeichnungen, Gesprächen oder Aufsätzen nachbearbeitet werden.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 25.06.2016)

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