Die Vereinigten Gen-Staaten Europas

Symbole verbinden: Apostel Paulus auf einem Pergament aus dem 9. Jh.
Symbole verbinden: Apostel Paulus auf einem Pergament aus dem 9. Jh. St. Gallen, Stiftsbibliothek
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Die Kultur hielt europäische Völker seit dem Frühmittelalter zusammen, nicht deren Gene: Das beweisen nun Historiker und Genetiker. Demnach gab es keine „reinrassigen“ Völker.

Die Vorstellung, dass Völker biologische Einheiten sind, die sich durch gemeinsames Blut, Herkunft und Sprache auszeichnen, hielt sich lang, ob in der wissenschaftlichen oder der politischen Diskussion. „Das hieße aber, dass Völker so etwas wie Lebewesen sind, die einen eigenen Charakter haben und dazu bestimmt sind, miteinander zu leben oder unterzugehen“, sagt Walter Pohl, Direktor des Instituts für Mittelalterforschung der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW) und Wittgenstein-Preisträger.

Pohl und ein internationales Team aus Historikern und Genetikern bewiesen nun in einem von der Europäischen Union geförderten ERC-Projekt mit historischen und naturwissenschaftlichen Methoden, dass das nicht stimmt.

Fünf Jahre lang untersuchten die Forscher, welche ethnischen und politischen Gemeinschaften nach dem Zerfall des Weströmischen Reiches (476 n. Chr.) entstanden. Sie verglichen historische Texte und bereits existierende genetische Untersuchungen. Zudem nahmen sie selbst Hunderte Genproben aus mitteleuropäischen und italienischen Gräberfeldern.

Gentests aus Gräbern

Für die Untersuchungen eigneten sich besonders die Langobarden, die 568 n. Chr. von Pannonien nach Italien einwanderten. Sie hinterließen sowohl reichhaltige textliche Quellen als auch archäologisches Material in ihren Gräbern. Die Genetiker entnahmen Gentests aus den Gräbern des Herkunfts- und Einwanderungsgebietes. Das Ergebnis: Genetisch unterschieden sich die Völker Europas sehr schwach, ob Bayern, Franken, Awaren, Römer oder Langobarden.

Auch die Ethnien selbst waren keine genetisch homogenen Gruppen. „Reinrassige“ Völker gab es also nicht. Europas Bevölkerung ist spätestens seit dem Frühmittelalter, also seit circa 1500 Jahren, eine Mischbevölkerung. Die Genetiker sagen, dass das im Neolithikum, also vor gut 7000 Jahren, noch anders war. Für die Forscher heißt das nun, dass aufgrund des genetischen Materials allein nicht auszumachen ist, zu welchem Volk ein Individuum gehörte. „Rassisches Denken hat keine Grundlage mehr. Ein Langobarden-, Alemannen- oder Judengen gibt es nicht“, sagt Pohl.

Diejenigen, die sich einem Volk zugehörig fühlten, sprachen nicht einmal zwingend die gleiche Sprache. Die Gemeinschaft konnte durchaus zwei- oder mehrsprachig sein. Andere wechselten ihre Sprache: So wurden aus den germanisch sprechenden Franken später die Franzosen, die sich einer romanischen Sprache bedienten.

Das Gemeinschaftsbewusstsein der Leute machte sie zu Franken, Bayern oder Langobarden. Sie mussten sich einer Gruppe zugehörig fühlen und von dieser akzeptiert werden. Die Gemeinschaft wurde symbolisch ausgedrückt, etwa durch gemeinsame Religion, Tracht, Riten, Politik oder eben Sprache: „Wobei all diese Zeichen und Symbole bei manchen Gruppen relevant sind und bei anderen weniger“, sagt Pohl.

Franken zu töten war teurer

Neben all den neuen Identitäten des Frühmittelalters gab es immer noch die Möglichkeit, mehr oder weniger Römer zu sein. Das Römische Reich zerfiel. Die Römer verloren ihr Prestige, und ihr Status wurde in den neuen Gemeinschaften stark beschnitten. Das zeigt etwa ein Bußkatalog – ein Gesetzestext – der Franken. Dieser besagt, dass bei einem Mord der Mörder den Verwandten des Opfers eine Buße zu zahlen hat. Wobei es doppelt so teuer war, einen Franken zu töten als einen Römer.

Die römische Identität hielt sich dennoch jahrhundertelang. Sie sprachen von sich selbst nicht mehr als Römer, sondern übernahmen oft die germanische Fremdbezeichnung: Walsch, Welsch, Wlach oder Walisisch. Insgesamt genossen die lebenden Römer aber wenig Ansehen. Sie verschwanden allmählich und lebten nur mehr in Enklaven. Ihre Vorfahren hingegen standen wegen ihrer Geschichte und Kultur weiterhin hoch im Kurs.

Die Mittelalterforschung zu Identitäten und Volkszugehörigkeit bewahrt auch vor vorschnellem zeitgeschichtlichen Missbrauch. Der Begriff „Völkerwanderung“ wird auf politischer Ebene dann strapaziert, wenn Menschen – egal aus welchen Gründen – migrieren. Wanderbewegungen hat es in der Geschichte aber immer gegeben. Der große Unterschied zwischen damals und heute ist, dass die Völker der „Völkerwanderung“ neue Reiche gründeten. Sie waren bewaffnete und professionelle Soldaten: „Das ist heute nicht so. Eine bewaffnete Migration auf breiter Ebene hat es in der europäischen Geschichte schon länger nicht mehr gegeben. Dieser wesentliche Unterschied wird aber in den aktuellen Debatten leider oft ignoriert“, so Pohl. Er wünsche sich, dass diejenigen, die über historische Ereignisse sprechen, diese auch kennen und keine kurzsichtigen Schlüsse daraus ableiten: etwa strikte Grenzen zu ziehen, die auch im modernen Nationalstaat nur eine Fiktion von Einheit bieten. [ ÖAW ]

(Print-Ausgabe, 16.07.2016)

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