Mittelalterliche Musik, entdeckt und neu gespielt

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In Wien stießen Wissenschaftler auf Kompositionen aus dem 15. Jahrhundert. Bisher nicht gekannte mehrstimmige Choräle erlebten dadurch ihre erstmalige CD-Aufnahme.

Ein „Nebenprodukt“, wenn auch ein kostbares, sei die Edition spätmittelalterlicher Musikquellen gewesen, sagt der Direktor der Sammlung von Handschriften und alten Drucken der Österreichischen Nationalbibliothek (ÖNB), Andreas Fingernagel. Sieben Jahre haben Musikwissenschaftler der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW) im Rahmen von zwei geförderten Projekten des Wissenschaftsfonds FWF die mittelalterlichen Musikhandschriften der ÖNB durchforstet.

„Das waren Fragmente, die bis vor wenigen Jahren nicht zugänglich waren, weiters schon bekannte, aber bisher unbeachtete Handschriften, und auch einige Neufunde“, sagt Alexander Rausch von der Abteilung Musikwissenschaft der ÖAW. Die aufgefundenen Quellen enthalten zahlreiche liturgische Bücher, die fast alle Varianten des Gregorianischen Chorals bieten und die Mehrstimmigkeit des Mittelalters belegen. Diese reicht von der schlichten klösterlichen Zweistimmigkeit bis zu den kunstvollen polyphonen Messen bedeutender Renaissancekomponisten. Enthalten sind auch Angaben zur Gestaltung der Liturgie, also der Messen und Stundengebete, sowie Hinweise zur Ausstattung in der Buchmalerei.

Zu den wichtigsten Neufunden in der ÖNB zählen die Reste eines in Venedig verfassten Chorbuches aus der Zeit um 1440. In diesen befinden sich Werke des bekannten frankoflämischen Komponisten Guillaume Dufay (1397–1474). Nach den nun publizierten Handschriften entstanden Neuaufnahmen, wobei sich „Musik aus dieser Zeit jetzt anders als bisher spielen lässt“, so Alexander Rausch.

Verfasser stammte aus Venetien

Handschriften desselben Verfassers befinden sich auch in der Bayerischen Staatsbibliothek, deren Inhalt in Fachkreisen schon länger bekannt war. Die beiden zeitgleich entstandenen Quellen ergänzen sich, so sind in Wien zwei Kompositionen von Dufay enthalten, in München wiederum andere. Der Verfasser stammt aus Venetien, sei Name ist nicht bekannt.

ÖAW-Wissenschaftler Robert Klugseder hat gemeinsam mit der Engländerin Margaret Bent (University of Oxford) die Edition „Ein Liber cantus aus dem Veneto (um 1440)“ herausgegeben, wobei hier die Forschungsergebnisse sowohl aus Wien als auch aus der Bayerischen Staatsbibliothek München enthalten sind. „Bent ist die führende Forscherin für die mehrstimmige Musik des 15. Jahrhunderts“, sagt Klugseder. Die Edition umfasst Diagramme, die in Faksimile wiedergegebenen Fragmente aus Wien und München und einen wissenschaftlichen Teil. 2013 wurde auch in Wien eine CD herausgebracht.

Für Österreich ist ein umfangreicher Quellenbestand aus der Abtei Mondsee von Bedeutung, sagt Musikhistoriker Rausch, weiters Musikalien aus dem spätmittelalterlichen Böhmen mit ihren großformatigen und der typisch böhmischen Notenschrift ausgestatteten Choralbüchern. Diese teilweise in tschechischer Sprache verfassten Texte stammen aus der Reformbewegung nach Johannes Hus, in der eine eigene Liturgie entwickelt wurde.

Bei den in der ÖNB untersuchten Fragmenten handelt es sich um unterschiedliche Materialien, „von einer halben Seite bis zu einem halben Chorbuch“. Aber gerade die Fragmente seien oft viel wertvoller als vollständig erhaltene Materialien, sagt Alexander Rausch. Denn sie würden über den Musiker mehr verraten als ein vollendetes Werk.

LEXIKON

Mittelalterliche Musik. Vier Blätter in der Fragmentensammlung der ÖNB unter der Signatur „Fragm. 661“ und die Handschrift „Mus.ms. 3224“ der Bayerischen Staatsbibliothek München können eindeutig einem einzigen italienischen Schreiber im zweiten Viertel des 15. Jahrhunderts zugeordnet werden. Alle in den Fragmenten vertretenen Komponisten hielten sich entweder selbst im Veneto auf oder waren dort durch ihre Musik präsent.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 23.07.2016)

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