Stürzte Urmutter Lucy von einem Baum in den Tod?

Lucy war ein Australopithecus, 1,1 Meter hoch, 29 Kilo schwer. Sie lebte vor fast 3,2 Millionen Jahren.
Lucy war ein Australopithecus, 1,1 Meter hoch, 29 Kilo schwer. Sie lebte vor fast 3,2 Millionen Jahren.(c) REUTERS (HANDOUT)
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In Computertomografen zeigen die Fragmente der Knochen des berühmtesten Australopithecus Frakturen, die wie eine Welle von unten nach oben durch den Körper liefen: Demnach prallte das Opfer mit den Füßen auf, nachdem es geschätzte zwölf Meter herabgefallen war.

Wissenschaftlich trocken heißt das Menschlein, das am 24. November 1974 in einer Halbwüste in Äthiopien gefunden wurde, AL 288-1, das AL steht für Afar Locality. Die Bewohner der Region fanden in ihrer Sprache, dem Amharischen, einen blumigeren Namen, Dinknesh, das heißt „Du Wunderbare“. Aber zum Weltstar wurde das seit 3,2 Millionen Jahren tote Lebewesen unter dem Namen, den ihm seine Ausgräber gaben: Sie feierten den Fund mit einem Fest, bei dem sie „Lucy in the Sky“ von den Beatles aufdrehten: Der früheste Mensch war entdeckt. Zwar ist bis heute umstritten, ob er wirklich eine Frau war, aber Lucy schlug ein. Die Urmutter!

Zu ihrer Zeit war die Region ein wohl bewässertes Grasland mit einigen Bäumen – hohen, man hat meterdicke fossile Stämme gefunden –, und Lucy selbst war ein Australopithecus, 1,1 Meter hoch, 29 Kilo schwer, zum Zeitpunkt ihres Todes etwa 25 Jahre alt, das weiß man von den Weisheitszähnen. Und von vielen Knochen weiß man, dass sie aufrecht gehen konnte, das bezeugen etwa die Oberschenkelhälse, das bezeugen vor allem die Knie: Sie sind so gebaut, dass ein Fuß den Körper wohl balanciert halten konnte – wenn der andere gerade zum nächsten Schritt in der Luft war. Aber ganz hatte Lucy das Leben in den Bäumen nicht aufgegeben, darauf deuten andere Knochen: Vermutlich kletterte sie zum Schlafen hinauf, in Sicherheit.

Und in Gefahr: Sie stürzte herab, in den Tod, das ist das jüngste Kapitel, John Kappelman, Anthropologe der University of Texas, hat es aufgeschlagen: Lucy war deshalb so sensationell, weil 40 Prozent ihres Skeletts erhalten waren, allerdings zerschlagen, in 88 Stücke, welch ein Wunder nach 3,2 Millionen Jahren! Der Fragilität wegen war eine mehrjährige Tour der Reste durch Museen der USA hoch umstritten, aber auf ihr bekam Kappelman die Ahnfrau zu Gesicht – und in einen Computertomografen seiner Kollegen von der Geologie, er löst sehr viel höher auf als medizinische Geräte. Zehn Tage brauchte Kapelman, dann hatte er 35.000 CT-Schnitte.

Stutzig wurde er zunächst beim linken Oberarmknochen: Der ist so gebrochen, wie er es heute oft bei alten Menschen ist, wenn sie einfach hinfallen und sich mit dem Arm abstützen wollen – oder bei jungen, kräftigen, die aus großer Höhe herabstürzen.

Schützender Arm half nicht

Beides passiert gar nicht so selten: In der Statistik der Weltgesundheitsorganisation tauchen unter den Todesursachen von Kindern Stürze an 13. Stelle auf, und in den Notaufnahmen der US-Spitäler haben 26 Prozent der Eingelieferten einen Sturz erlitten. Statistiken und Spitäler gab es nicht zu Lucys Zeiten, es hätte ihr auch niemand helfen können, wenn alles so zugegangen ist, wie Kappelman es sich und uns vorstellt: Nach dem Oberarmknochen fielen ihm an vielen anderen Knochen Bruchstellen auf, offenbar lief eine Druckwelle von unten nach oben durch den Körper: Lucy stürzte mit den Füßen voran herab, als Erstes gingen die Knie zu Bruch (Fußknochen sind nicht erhalten), dann die Oberschenkel, dann prallte der Körper nach vorn, nun kam der Arm: „Lucy war noch bei Bewusstsein, als sie ihre Arme ausstreckte, um ihren Sturz aufzuhalten.“ Es half nichts, als Nächstes kamen die Rippen, am Ende der Schädel (Nature 29. 8.).

Und warum ist sie herabgestürzt aus geschätzten zwölf Metern und aufgeprallt mit 56 Stundenkilometern? Weil sie nicht mehr optimal klettern konnte, vermutet Kappelman. Hat er damit recht, hat er es mit seiner ganzen Hypothese? Bisher hielt man alle Schäden an den Knochen für solche, die erst nach dem Tod angerichtet wurden, durch Wind und Wetter etc. Durch eines nicht, das ist das große Rätsel: Die Knochen haben keinerlei Bissspuren, obgleich es an Hyänen nicht mangelte. Und bestattet wurde, nach allem, was man weiß, zu Lucys Zeiten noch nicht.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 30.08.2016)

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