Paul Kammerer: Der Krötenzauberer

Paul Kammerer
Paul Kammerer(c) imago/United Archives Internatio
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Die Vita des Wiener Biologen Paul Kammerer, der als zweiter Darwin galt, aber auch als Fälscher, wird 90 Jahre nach seinem Suizid sorgsam aufgearbeitet.

Vor 90 Jahren, am 23. September 1926, wurde am Schneeberg ein Selbstmörder gefunden, er trug einen Zettel bei sich, mit Verfügungen, aber ohne jedes Wort zum Motiv: „Dr. Paul Kammerer ersucht, ihn nicht nach Hause zu überführen.“ Man möge ihn in die Anatomie der Universität Wien bringen: „Vielleicht finden die werten Kollegen in meinem Gehirn eine Spur dessen, was sie an den lebenden Äußerungen meiner geistigen Tätigkeit vermissten.“

Das schlug ein, weltweit, die „New York Times“ berichtete breit über den, den sie drei Jahre zuvor den „zweiten Darwin“ genannt hatte: „Orthodoxe wissenschaftliche Kreise haben seine Theorien nicht akzeptiert, seinen Sozialismus missbilligend betrachtet und verhinderten aus diesen Gründen die Erfüllung seines Traums, Professor in Wien zu werden.“ Dort, in Wien, ergänzte die „Neue Freie Presse“: „Er liebte die Musik und liebte die Frauen.“

Vor allem liebte er Amphibien: Schon als Kind hatte er die elterliche Wohnung weithin in ein Terrarium verwandelt und bald breit in Zeitschriften erklärt, wie man die Tiere hält. Das konnte er später, mitten im Biologiestudium, in weltweit einzigartigem Ausmaß im Vivarium im Wiener Prater. Dort beherbergte ein Gebäude der Weltausstellung seit 1902 die Biologische Versuchsanstalt (BVA), in ihr wurde ein völlig neues Kapitel der Biologie aufgeschlagen, in dem nicht tote Tiere seziert, sondern mit lebenden experimentiert wurde. Darwin hatte vorgearbeitet (mit Regenwürmern, die er anschrie, um ihr Hörvermögen zu testen), sein Gefolgsmann August Weismann hatte vorgearbeitet (an Mäusen, denen er die Schwänze abschnitt, um die Gesetze der Vererbung zu erkunden).

Aber systematisch kam die experimentelle Biologie erst in Wien und mit Kammerer, das Institut galt als das der „Zauberer“, und Kammerer war ihr Meister. Er arbeitete nicht grob wie Weismann, er veränderte ganz mild die Umwelt: Alpensalamander gebären entwickelte Junge, Feuersalamander legen Quappen ins Wasser. Gab Kammerer ihnen aber Hochgebirgsbedingungen, gebaren auch sie entwickelte Junge, vice versa ging es bei Alpensalamandern. Oder Geburtshelferkröten: Anders als andere Kröten kopulieren sie an Land. Setzte Kammerer sie aber in Wasser, entwickelten die Männchen etwas, was die anderer Arten von Natur aus haben, um sich an glitschigen Weibchen festhalten zu können: Schwielen an den Fingern. Die bekamen Geburtshelferkröten im Wasser auch.

Oder Grottenolme: Die haben in ihrer lichtlosen Welt die Augen abgelegt, sind blind. Kammerer setzte sie unter Licht, sie wurden sehend. „Und was sehen sie dann? Den Paul Kammerer!“ So reagierte Kokoschka, als Alma Mahler es ihm berichtete, sie hatte es aus erster Hand: Kammerer war nicht nur Biologie, es zog ihn auch zur Musik, und er war Mann, zeitlebens hinter Frauen her, unter ihnen die Witwe des Komponisten, den er verehrte wie einen Gott. Wie er sich ihr näherte, das findet der Wiener Wissenschaftsjournalist Klaus Taschwer, der zum Todestag eine so sorgsame wie sensible Biografie vorlegt („Der Fall Paul Kammerer“, Hanser), „ein wenig zum Fremdschämen“.

Mehr als ein wenig: Kammerer ging bis zur Drohung mit Suizid (am Grab Mahlers), Alma blieb kühl („ich schätzte den Freund, aber der Mann war mir immer von Herzen zuwider“), ließ sich aber darauf ein, in der BVA zu forschen – just an Gottesanbeterinnen, die ihre Männchen nach der Kopulation oft verzehren. Und just zur Klärung der Frage, ob diese Insekten mit der Häutung ihr Gedächtnis verlieren: Alma Mahler war gerade am Häuten, schwankte zwischen Kokoschka und Gropius, hatte aber vorläufig genug von Männern. Über den Hintersinn des Experiments bewahrte sie Diskretion, mit einem einfühlsamen Urteil nach Kammerers Tod hingegen hielt sie sich nicht zurück: „Ich sage nicht, dass etwas Schwindelhaftes an ihm war; nein, er wünschte die Ergebnisse so glühend herbei, dass er unbewusst von der Wahrheit abweichen konnte.“


Lamarck-Revival. Das bezieht sich auf eines der möglichen Motive des Suizids: Kammerer war unter Betrugsverdacht geraten, vor allem mit seinen Geburtshelferkröten, bei denen er die Macht der Umwelt auch über das Erbe gezeigt zu haben glaubte. Auch die Söhne der Männchen hatten die Schwielen, man konnte sie deutlich sehen, sie waren dunkel. Damit war Lamarck mit seiner Vererbung erworbener Eigenschaften wieder da. Darwin hatte sich daran nicht gestört, für ihn war es kompatibel mit seiner Evolutionstheorie. Aber Darwinisten wie Weismann lehnten es strikt ab, deshalb das Coupieren der Schwänze werdender Mäuseeltern: Die Jungen hatten ganz normale, lange.

Kammerer konnte den Fälschungsverdacht zunächst von sich weisen, aber 1926 fiel dem US-Biologen Gladwyn Noble bei einem Wien-Besuch auf, dass die schwarze Farbe nicht von der Natur kam, sondern von Tinte, die irgendjemand gespritzt hatte. Es sei „eine Fälschung“, konzedierte Kammerer in einem seiner Abschiedsbriefe – an die Kommunistische Akademie in Moskau, die „Prawda“ druckte ihn –, aber „ein Fälscher bin ich nicht gewesen“, beteuert er in einem anderen.

Wer könnte den bösen Verdacht gestreut haben? Arthur Köstler, der vor 45 Jahren die bisher umfangreichste Darstellung der Causa vorgelegt hat („Der Krötenküsser“), musste es offenlassen, hatte aber eine Idee: Er bat Forscher, schwarze Tinte in Krötenfinger zu spritzen. Sie blieb nur kurz, das veranlasst Taschwer zu einem „So könnte es gewesen sein“: Noble, der nur kurz in Wien war, hatte Verbindungen mit Othenio Abel, einem Paläontologen der Uni und nationalistischen Antisemiten, Mitglied der Geheimgesellschaft „Bärenhöhle“ (erst Taschwer hat ihre Existenz publik gemacht). Ergo: Rechtsextreme wollten Juden aus dem Lehrkörper der Uni drängen, sie statuierten ein von Abel inszeniertes Exempel an Kammerer, er war Halbjude und Pazifist obendrein. Und: Sein Bestiarium mit den erworbenen Eigenschaften widersprach jeder Rassentheorie.

Aber das Gespinst ist dünn, Koestler, der ab 1922 in Wien studierte, fühlte und sah keinen politischen Hintergrund. Und Kammerer war ohnehin am Ende, privat – er war verarmt und hatte sich 1920 einer Liebe wegen umzubringen versucht, 1926 war er wieder unglücklich entflammt – und von der Arbeit her: In Wien hatte man ihm keine Professur gegeben, und eine Einladung aus Moskau – die Veränderung von Lebewesen durch die der Umwelt passte gut zur Ideologie – zerschlug sich.

Klären lassen wird es sich wohl nie, das Motiv. Aber es geht nicht nur um Sex and Crime, es geht um Kammerers Experimente. Die wurden nie wiederholt, keiner konnte Amphibien züchten wie er. Hoffentlich findet sich doch einer: Epigenetik – die Modifizierung von Genaktivitäten durch die Umwelt – ist heute aktuell wie lang nicht.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 25.09.2016)

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