Johannesevangelium ohne Distanz zum Judentum

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Das jüngste der vier Evangelien bietet Überraschungspotenzial. Der Theologe Hans Förster begab sich auf eine biblische Spurensuche. Dabei fand er neue Hinweise auf die ursprünglichen Leser, die wohl jüdischer Tradition waren.

Ein einziges Wort stellte die Forschung des Bibelwissenschaftlers Hans Förster auf den Kopf: der griechische Begriff εγκαíνια, „enkainia“, aus dem Johannesevangelium Kapitel 10,22. Er wird in den verschiedenen Bibelausgaben traditionell mit dem jüdischen Tempelweihfest übersetzt. Für diese Übersetzungsmöglichkeit existiert ein einziger Beleg. „Warum ist in der Antike also diese Textentscheidung getroffen worden?“, fragt der evangelische Theologe der Uni Wien, der pauschal formulierte Übersetzungen präzisieren möchte.

Förster wollte in einem Forschungsprojekt, gefördert vom Wissenschaftsfonds FWF, die griechische Übersetzung des Johannesevangeliums auf Quellen untersuchen. Dafür ging er wie ein Archäologe vor: Wort um Wort wurde auf seinen Ursprung hinterfragt. So entstand eine Art Stammbaum. Bei der fast detektivischen Arbeit stieß der Bibelwissenschaftler auf philologische Probleme: Manche Verse und einzelne Begriffe, wie „enkainia“, ließen sich nicht klar in eine Übersetzungstradition einordnen. In manchen Fällen gab es mehr als 1000 Übersetzungsmöglichkeiten. „Ich habe dadurch Türen aufgemacht, von denen ich weder wusste, dass es sie gibt, noch, was sich dahinter versteckt“, sagt Förster.

Die Vermutung des Theologen: Das jüngste der vier Evangelien setzt explizit jüdisches Wissen vom Leser voraus. „Es ist also nicht nur wichtig, was gesagt wird, sondern viel mehr, was nicht gesagt wird.“ Das vorausgesetzte Wissen gibt einen Hinweis auf die ursprünglichen Leser des Textes, die tiefer in einer jüdischen und mosaischen Tradition verwurzelt gewesen sein sollen, als bisher angenommen.

Das erklärt, warum manche Begriffe und Textpassagen vom Verfasser des Johannesevangeliums ohne weitere Erklärungen hingeschrieben wurden: Es war nicht notwendig zu erklären, um welches Tempelweihefest es sich handelt. Der Leser wusste, was gemeint war. Diese Sicht spießt sich mit der traditionellen theologischen Einordnung des Johannesevangeliums, dem eine Distanz zum Judentum zugeschrieben wird. „Damit wurde eine vom Judentum distanzierte Interpretation unterstützt und andere Übersetzungsmöglichkeiten automatisch ausgeschlossen“, sagt Förster.

Die Konsequenz sei, dass man durch die christliche Brille übersehe, dass es Passagen gibt, wo jüdisches Wissen für das Verständnis vorausgesetzt ist.

Nicht politisch korrekt

Obwohl das Johannesevangelium ein zentraler Text des christlichen Glaubens ist, gibt seine Entstehungs- und Überlieferungsgeschichte Rätsel auf. Um diesen auf die Spur zu kommen, schlägt Förster eine linguistische Analyse in Verbindung mit einer textkritischen Untersuchung der Überlieferungen vor. Problematisch wird es bei der kritischen Haltung des Evangeliums gegenüber den Juden. „Political Correctness steht im Johannesevangelium nicht an vorderster Stelle“, meint er. Das Evangelium zeigt einen intensiven Diskurs zwischen Judenchristen und Juden, dabei kommt es auch zu harschen Abgrenzungen zwischen den Gruppen.

Förster wünscht sich eine nüchterne Übersetzung, die den Text so nachbildet, wie er ist: ohne Wertung und mit seiner Mehrdeutigkeit. „Wir können es dem Leser und seiner Interpretation überlassen, was und wie er liest.“ Man solle die Mehrdeutigkeit des biblischen Textes stehen lassen und Lesern mehr zutrauen. „Wenn der Text keine eindeutige Übersetzung anbietet, warum sollte ich mich dann für eine einzige Möglichkeit entschließen?“

Förster weiß, dass Leser heute das Evangelium anders wahrnehmen. „Meine Forschung wird nicht einhellig angenommen“, sagt er. Mit seiner Vorgehensweise hat er wissenschaftliches Neuland betreten: „Ich verstehe, dass das verunsichern kann, wenn ein Text plötzlich bisherige theologische Prägungen in Frage stellt.“

("Die Presse", Print-Ausgabe, 08.10.2016)

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