Das Heer der Sinne

Rhythmic Gymnastics - Individual All-Around Final
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Unsere Wahrnehmung kann zwar nicht alles, was die vieler Tiere kann, sie ist aber viel breiter, als uns bewusst ist. Und sie arbeitet auch tief im Körper.

Sehen, hören, schmecken, riechen, tasten, basta! Das sind unsere Sinne, fünf an der Zahl, so lernt es jedes Kind. Aber wenn wir im Stockfinsteren mit der Spitze des Zeigefingers die der Nase berühren wollen, dann gelingt das ohne Probleme. Sofern wir nur sonst Herr unserer Sinne sind, und nicht etwa betrunken: US-Verkehrspolizisten nutzen das als ersten Test für verdächtige Autolenker, sie lassen sie die Augen schließen und den Finger zur Nase führen.

Er geht daneben. Aber wie trifft er im nüchternen Zustand? Die Propriozeption informiert uns, das ist der Sinn, der die Lage und Bewegung aller Körperteile wahrnimmt, wir merken nichts davon, es sei denn, dass die Eigenempfindung – proprius recipere – gestört ist, kurzfristig durch Drogen oder, selten, auf Dauer durch Krankheiten: Eines ihrer Opfer, Ian Waterman, erlitt 1971 mit 17 eine virale Darmentzündung, das Immunsystem reagierte falsch, der junge Mann konnte sich zwar noch bewegen, hatte aber keinerlei Kontrolle darüber, ihm war, als schwebe er in der Luft (The Scientist 1. 9.).

Oder Patient eins und zwei, der eine halbwüchsig, der andere ein Kind: Beide haben ein Leiden, das Knochen deformiert und Bewegungen schwer macht, beim Gehen wie beim Atmen, beim Essen wie beim Anziehen. Sonst sind die beiden normal entwickelt, sie wissen nur nicht, wo ihre Körperteile gerade sind, sie helfen sich mit den Augen. Werden die mit einer Binde verschlossen, verfehlen auch sie die Nasenspitze. Das hat kein Polizist getestet, sondern Carsten Böhmann von der US-Gesundheitsbehörde NIH (Bethesda), er hat auch eine erste Spur ins Genom gefunden: Beide Patienten haben die gleiche Variante des Gens PIEZO2, es hat mit der Wahrnehmung von Berührung zu tun (NEJM 23. 9.).

Aber wie das auf die Propriozeption wirkt, ist unklar, vieles an diesem Sinn liegt im Dunkeln. Dass es ihn gibt, weiß die Medizin zwar seit Galen (2. Jahrhundert), systematisch erforscht wird er aber erst seit den 1970er-Jahren. Zunächst wandte man die Aufmerksamkeit den Kandidaten zu, die ins Auge springen, den Gelenken, in ihren Knochen suchte man Sensoren. Dort sind sie aber nicht, sie sind in den Muskeln, die haben Sinnesorgane, die die Ausdehnung der einzelnen Fasern messen. Daraus wird dann auch die Lage im Körper errechnet, Guy Goodwin (Oxford) hat es gezeigt (Brain 95, S. 705).


Sinne für jede Lebenswelt. Wir haben also einen sechsten Sinn, einen siebten auch – er sitzt im Ohr und detektiert die Schwerkraft –, vielleicht einen achten gar: Magnetorezeption. Joe Kirshvink (MIT), der sie ein langes Forscherleben erkundet hat, an Bakterien und Tieren, glaubt, sie gerade auch bei uns nachgewiesen zu haben, im Selbstversuch (Science 352, S. 1509; „Presse am Sonntag“, 3. 7. 2016). Mit diesem Sinn orientieren sich Tiere, die weit wandern – Zugvögel, Meeresschildkröten –, aber auch Rinder und Hirsche, sie richten sich beim Äsen und Schlafen nach Norden aus.

Warum ist völlig rätselhaft, andere Spezialisierungen finden leichtere Erklärungen in der Lebenswelt und -weise: Fische etwa müssen die Bewegung des Wassers kennen und ihre eigene darin, sie tun es mit Härchen, die längs über den Körper gereiht sind. Mit denen nehmen sie auch wahr, wie von ihnen selbst bewegtes Wasser reflektiert wird, wenn es auf Hindernisse prallt. Es ist das gleiche Prinzip wie das der Echolokation, die Wale und Fledermäuse unabhängig voneinander für ihre dunklen Welten entwickelt haben.

Auch sonst wird gemessen, was sich messen lässt: Haie haben einen Sinn für Elektrizität, Zitteraale und Rochen haben ihn gar zur Jagdwaffe ausgebaut. Andere Jäger haben ein Gespür für Temperaturen: Im Maul mancher Schlangen sitzt ein Organ, das verrät, wo warmblütige Beute ist. Vampir-Fledermäuse, die mit Recht so heißen, haben auch eines, in der Nase, es leitet sie bei denen, denen sie Blut abzapfen – Rindern etwa – zu den ergiebigsten Gefäßen. Und so weiter: Noch ein Blutsauger, der Moskito, ist dem CO2 in der Atemluft hinterher. Und mildere geflügelte Plagegeister können die Feuchtigkeit der Luft messen, man vermutet es schon lang, Anders Enjin (Lund) hat den Sinn gerade an Fruchtfliegen identifiziert (Current Biology 26, S. 1352).

Da stehen wir ärmlich da mit den fünf Sinnen, derer wir uns bewusst sind. Und selbst von ihnen merken wir oft nichts: Sie sind auch in Regionen tätig, von denen wir nichts ahnen, in Blutgefäßen etwa. Die reagieren auf Licht, das bemerkte Gautam Sicca 2012 an der Johns Hopkins University (Pnas 111, S. 17977). Dort hatte man eine neue Beleuchtung eingebaut, die nur dann aktiv wird, wenn jemand durch die Flure schreitet. Sicca tat es, mit präparierten Blutgefäßen in den Händen und Apparaturen daran, die vielerlei maßen, auch den Blutdruck. Der sank, wenn das Licht anging, „Photorelaxation“ heißt das, man hat es schon 50 Jahre früher bemerkt, aber den Kopf darüber geschüttelt, weil es im Körper ja kein Licht gibt – oder doch?

Was es durchaus gibt, sind Gerüche und Geschmäcker – und Sensoren allerorten. Die für Gerüche helfen etwa Spermien auf dem Weg zu ihrem Ziel, Hans Hatt (Bochum) ist es aufgefallen, er fand auch einen synthetischen Duftstoff, auf den Spermien ansprechen – den von Maiglöckchen –, der Originalduft von Eizellen ist unbekannt (Science 299, S. 2054). Auch andere Zellen wandern, von Düften geleitet, die der Haut finden so rascher zu Wunden. Welcher Duft in der Realität lockt – im Labor ist es der von Sandelholz –, weiß man wieder nicht, er könnte der Medizin helfen.

Das könnten auch Geschmackssensoren, sie suchen keine Ziele, sondern wittern Gefahr. Das tun sie etwa in den Atemwegen, in der Nase arbeiten gleich zwei im Verbund: Die einen achten auf Süßes, dauernd. Ist davon plötzlich weniger in der Luft, kann das an Bakterien liegen, die sich von Zucker nähren. Zur Klärung werden Detektoren für Bitteres aktiviert, die erschmecken Bakterien direkt und alarmieren das Immunsystem (Journal of Clinical Investigation 124, S. 1393). Auch im Darm sitzen Geschmackswächter, dort ist bei Waterman etwas schiefgelaufen, er leidet heute noch: Koordinierte Bewegungen wie das Heben einer Kaffeetasse hat er mühsam wieder erlernt, er braucht dazu aber die Augen, im Dunkeln ist er hilflos.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 16.10.2016)

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