Das eingefrorene Gedächtnis taut auf

Selbst vorerst unscheinbare Entdeckungen sollten gemeldet werden.
Selbst vorerst unscheinbare Entdeckungen sollten gemeldet werden.(c) Universität Innsbruck/Stadler
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Funde im Eis sind auch nach Jahrtausenden noch ausgezeichnet erhalten. Laien nehmen oft bedenkenlos wertvolle Artefakte mit und schädigen die Wissenschaft.

Das Eis der alpinen Gletscher hat seinen Beinamen „ewiges“ verloren. Die Klimaerwärmung taut die Gefrierschränke der Alpen – und nicht nur diese – rasant auf. Archäologen eröffnet dies ein völlig neues Betätigungsfeld: Was oft Jahrtausende tiefgefroren in den Bergen lag, wird plötzlich wieder sichtbar.

Gefeiertes Beispiel ist die 5300 Jahre alte Mumie des Eismannes, des Ötzi, gefunden am Übergang vom Nordtiroler Ötztal ins Südtiroler Schnalstal vor 25 Jahren.

Dieser einzigartige Fund löste zwar Begeisterung aus, wurde lang aber als ein relativ isoliertes Ereignis gesehen. Erst nach dem Jahrhundertsommer 2003 dämmerte Archäologen, dass sich ihnen eine völlig neue Welt auftat. Thomas Reitmaier, gebürtiger Innsbrucker und nun Kantonsarchäologe im schweizerischen Graubünden: „Der Hitzesommer 2003 war der Wendepunkt.“ Danach begannen sich Wissenschaftler in den Alpen intensiv mit dem neuen Fach der Gletscherarchäologie zu beschäftigen.

Überraschungen aus dem Eis

Im Gegensatz zur herkömmlichen Archäologie kann in den Gletschergebieten kaum Technik verwendet werden: kein Bodenradar, keine Luftbilder, die auffällige optische Veränderungen der Erde sichtbar machen. Was bisher zum Vorschein kam, aperte eher überraschend aus: Von einem fast 100 Jahre lang vermissten Wilderer bis zu einer deutschen Transportmaschine am Umbalkees in Osttirol.

Daher versuchten die Experten, Kriterien für mögliche Fundstätten festzulegen, die Reitmaier so beschreibt: „Es darf kein fließender Gletscher sein. Oft sind es Übergänge zwischen Tälern, die von Menschen seit Jahrhunderten oder gar Jahrtausenden genutzt werden. Und das Eis in dem Gebiet muss schon recht dünn sein.“

Diese Festlegung macht für Harald Stadler, Leiter des Instituts für Archäologien der Universität Innsbruck, seine alte Heimat Osttirol zu einem prädestinierten Suchgebiet. Insbesondere der Übergang zwischen dem Südtiroler Ahrntal und Osttirol scheint erfolgversprechend.

Erste Funde haben dies auch bereits bestätigt: So wurde auf dem Umbalkees ein geschnitztes Stück Holz gefunden, das ins 7. bis 5. Jahrhundert vor Christus datiert werden konnte. Wozu es diente, weiß man allerdings nicht. Stadler mutmaßt: „Der Grund für die gut sichtbaren Kerben ist nicht klar. Es könnte sich um Zählungen in Zusammenhang mit Bergbau, Viehwirtschaft oder militärischen Einsätzen handeln.“

Auch für Experten immer wieder überraschend ist das Alter der Funde. Durch das Eis werden sie perfekt konserviert, auch organisches Material, das bei herkömmlichen Grabungen kaum gefunden wird. Doch gerade dies birgt für die Wissenschaft eine große Gefahr, denn viele Funde auf Gletschern werden von Laien gemacht.

In Unkenntnis von möglichem Alter und Wert nehmen diese Dinge einfach mit, ohne dass die Wissenschaftler davon erfahren. Hubert Steiner vom Landesdenkmalamt in Bozen kennt einen solchen Fall aus seinem Zuständigkeitsbereich: „Einen Schneereifen aus der Jungsteinzeit hatte ein Geograf seit 2003 in seinem Büro liegen.“ Erst nach Jahren meldete der Mann den Fund. Durch Flugblätter auf Schutzhütten, in Seilbahnstationen und auf Almen will man die Menschen nun für dieses Problem sensibilisieren. Funde sollten fotografiert und dann gemeldet, nicht aber berührt oder gar mitgenommen werden. Egal, wie „jung“ diese aussehen mögen.

Raubgräber verkaufen Funde

Einer Gruppe wird man damit freilich nicht Herr: der Raubgräber. Mit diesen kämpft vor allem Steiner. In seine Zuständigkeit fallen große Teile der hochalpinen Front aus dem Ersten Weltkrieg, die nun wieder ausapern. Steiner: „Die Erforschung ist für uns wahnsinnig aufwendig, vieles lässt sich nur mit dem Hubschrauber machen. Und leider gibt es eine große Szene von Raubgräbern, die Funde aus dem Ersten Weltkrieg teilweise um Tausende Euro im Internet an Sammler verkaufen.“

Vergangene Woche trafen sich in Innsbruck Gletscherarchäologen aus aller Welt, von Norwegen bis zum Altai Gebirge, von den Alpen bis Colorado, um über die Zukunft dieses jungen Faches und ihre Erfahrungen zu sprechen. Denn, so der Berner Archäologe Albert Hafner: „Natürlich freuen wir uns nicht über den Klimawandel, aber wir versuchen das Beste daraus zu machen.“

IN ZAHLEN

600 Gletscher allein in Tirol geben in den Sommermonaten potenziell wertvolle Objekte frei. Die Palette reichte bislang vom Ötzi über einen vermissten Wilderer bis zu einer Ju52-Transportmaschine der Deutschen. Die Dunkelziffer ist groß, weil viele Gegenstände von Laien mitgenommen und nie gemeldet werden.

2500 Jahre zählt das älteste Fundstück aus den Gletschern Osttirols: ein geschnitzter Holzstock vom Vorderen Umbaltörl.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 22.10.2016)

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