Als Kröten sich panzerten

Nature, Fauna
Nature, FaunaKevin Schafer / Danita Delimont / picturedesk.com
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Die Schale der Schildkröten war eine aufwendige Erfindung, sie zwang zum Umstellen der Atmung. Wozu kam sie? Zum Schutz? Nein – zum Graben!

Wenn ihr die Last auf dem Rücken doch einmal zu groß wird, dann ruckelt sie kurz. Und dann bebt die Erde. Denn sie ist die Last, in einem Schöpfungsmythos der Cheyenne, in dem der Rücken einer Schildkröte alles trägt, die Erde und den Himmel. Auch in Erzählungen anderer Kulturen sind die schier unzerstörbare Schale und das schier ewige Leben ihrer Trägerin eingegangen, und später hat Antonio Gaudi ihr Reverenz erwiesen bzw. Hoffnung auf ihre Geduld gesetzt: Manche Säulen seiner Kathedrale Sagrada Familia in Barcelona, die allein zum Fertigwerden noch Jahrhunderte braucht, werden von steinernen Schildkröten getragen.

Aber werden sie wirklich so alt, und wie sind sie zu dem Panzer gekommen, der beim Altwerden hilft, weil er vor Attacken schützt? Ewig leben sie nicht, sie haben Feinde, in den Meeren etwa Haie – die greifen an der schwächsten Stelle an, unten –, und auf dem Land sind auch manche hinter ihnen her, sogar geflügelte: Der griechische Dramatiker Aischylos soll 456 v. Chr. durch eine Schildkröte zu Tode gekommen sein: Sie fiel ihm auf den Kopf, aus großer Höhe und dem Schnabel eines Adlers, der die Beute durch die Wucht des Aufschlags auf dem Boden knacken wollte.

Aber alt werden sie schon, vor allem die größten und berühmtesten, die, deren Form ihrem Inselreich den Namen gegeben hat: Bei manchen ist der Panzer im Nacken zu einem Sattel gewölbt, er heißt auf Spanisch „galapagos“ und regte Besucher zu Späßen an: „Ich setzte mich oft auf ihren Rücken, und nach ein paar Klapsen auf den hinteren Teil des Körpers liefen sie los; aber ich fand es sehr schwierig, meine Balance zu halten.“ Das notierte Darwin 1835. Den Riesenschildkröten wird der Reiter eher gleichgültig gewesen sein, sie haben Schlimmeres erlebt, waren Walfängern als lebende Vorräte willkommen, Darwin notierte auch das: „Man erzählt, dass einzelne Schiffe bis zu 700 Tiere mitgenommen haben.“

Den Aderlass steckten sie weg, eine umwegige Bedrohung setzte ihnen später ärger zu: Ziegen. Die waren Bauern entlaufen oder freigesetzt worden, sie machten sich derart über die Vegetation mancher Inseln her, dass für die Schildkröten nichts blieb. So war das etwa auf Pinta, dort fand man 1971 ein Exemplar einer Unterart, die man seit 1912 für ausgestorben hielt, Chelonoidis nigra abingdoni. Es war ein er, einen Meter lang, 88 Kilo schwer, um die 60 Jahre alt, man nannte ihn Lonesome George: Er war der Letzte der Seinen, 2012 verschied er mit kaum 100 Jahren. Andere wurden älter, die Rekordhalterin – Adwaita, im Sanskrit: Einzigartige – soll 256 gewesen sein, als sie 2006 in einem Zoo in Indien starb.


Von Seneszenz nicht verschont. Das mag übertrieben gewesen sein, zu Werbezwecken, aber Riesenschildkröten zählen zu den Methusalems im Tierreich. Und in einem galten alle Schildkröten als einzigartig: Ihre Fitness steigt mit dem Alter, sie reproduzieren sich von Jahr zu Jahr stärker, vor allem die Weibchen. Das schloss man aus Anecdotal Evidence – nicht sehr sicheren Einzelbeobachtungen –, systematisch ist es schwer zu prüfen. Aber Frederic Janzen (Iowa State University) ist es gelungen: Er hat mit seinen Studenten 30 Jahre lang jeden Sommer jedes einzelne Tier einer Kolonie von Zierschildkröten am Mississippi überwacht: Sie bleiben von Seneszenz nicht verschont. Zwar legen die Weibchen mit steigendem Alter immer mehr Eier, aber die Qualität sinkt (Pnas 113, S. 6502).

Ihre Kräfte schwinden also wie die aller anderen Tiere auch, aber Eigenheiten haben sie schon, höchst befremdliche, Schnäbel wie Vögel etwa, und natürlich: die Schale. Wie ist sie gekommen? Sie muss einen guten Grund gehabt haben, sie machte nicht nur den Körper schwer – 30 Prozent seines Gewichts sind von ihr –, sondern auch das Atmen (und den Gang, der wird schleppend): Alle anderen Wirbeltiere können dazu die Rippen weiten, bei den Schildkröten sind sie miteinander verwachsen, sie mussten auf eine andere Atemtechnik umstellen, der Bauchmuskel wurde ihr Blasbalg (Nature Communications 5:5211).

Und wo kam der Panzer, auf dem Land oder im Wasser? Das war lang umstritten, manche Fossilien deuteten auf aquatischen Ursprung – auch der Panzer am Unterleib tut es, diese Region müsste an Land nicht geschützt werden (Nature 456, S. 497) –, andere auf terrestrischen. Für den spricht mehr, erst später stiegen manche ins Wasser, gar ins Meer. In dessen Kälte schlugen sie neuerlich einen Sonderweg ein: Andere Meeresbewohner, Robben etwa, verteilen die Wärme im Körper so, dass der Kern warm bleibt, die Gliedmaßen kühlen aus. Meeresschildkröten haben ein gegenläufiges Wärmetauschsystem: Die Venen, die das von den Muskelbewegungen warme Blut zurück zum Herzen führen, sind in den Flossen so neben die Arterien gelegt, dass sie deren hinausströmendes Blut wärmen. Und das ihre abkühlen. So bleibt auch der Körperkern kühl, John Davenport (Cork) hat es bemerkt, er erklärt es so: Die Flossen werden nicht nur im Wasser gebraucht, sondern auch an Land, am Strand. Dorthin steigen die Weibchen zur Eiablage, dort müssen sie Löcher graben, dort ist es wärmer als im Wasser, und die Muskeln müssen mehr leisten.

Das bringt mehr Wärme, die darf nicht in den Körperkern, er würde zu heiß (Biology Letters 11:20150592). Aber auch Landschildkröten graben, und bei ihnen findet Torsten Scheyer (Zürich) den Schlüssel zur Lösung des größten Rätsels: Wozu kam der Panzer? Geschützt haben kann er nicht (gleich), er musste sich entwickeln, das tat er erst unten am Körper, dort muss er eine andere Funktion gehabt haben. Die zeigt sich an einer der ältesten Proto-Schilkröten, Eunotosaurus africanus, sie war 15 Zentimeter groß und lebte vor 260 Millionen Jahren in Südafrika. Von ihr gibt es fast vollständige Fossilien, auch Füße und Hände sind erhalten.

Deren Endfingerglieder haben die Spatenform von Tieren, die graben. Offenbar taten das die ersten Schildkröten auch – und nutzten die miteinander verwachsenden Rippen zum Abstützen bzw. als Widerlager (Current Biology 26, S. 1887): „Die Proto-Schale erlaubte es den Tieren, sich in den Boden einzugraben und in unterirdischen Behausungen den unwirtlichen Umweltbedingungen Südafrikas zu trotzen.“

("Die Presse", Print-Ausgabe, 06.11.2016)

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