Wie Aale sich winden

Solange sie im Süßwasser heranreifen sind sie Intersexe, haben kein Geschlecht. Das kommt erst im Meer.
Solange sie im Süßwasser heranreifen sind sie Intersexe, haben kein Geschlecht. Das kommt erst im Meer.Jack Perks/FLPA/picturedesk.com
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Wo haben sie ihre Sexualorgane und wo setzen sie sie ein? Bei den Aalen blieb vieles lang im Dunkeln. Erst modernste Technik bringt Licht hinein.

Die histologische Untersuchung des Lapppenorgans macht es mir nicht möglich, der Meinung, dass dieses der Hoden des Aals sei, entschieden beizupflichten oder sie mit sicheren Gründen zu widerlegen.“ Mit dieser Bankrotterklärung endete 1876 die hoffnungsvolle Biologenkarriere des Sigmund Freud. Der studierte in Wien, mit hohem Interesse und Engagement, sein Professor – Karl Claus – würdigte es und schickte ihn schon im 5. Semester zu einem Forschungsaufenthalt nach Triest. In der dortigen zoologischen Station sollte er eines der größten Rätsel der Fischkunde lösen, das der Reproduktion des Aals, selbst der scharfe Beobachter Aristoteles hatte nichts finden können und vermutete eine Urzeugung aus den „Eingeweiden der Erde“: Schlamm.

Die wurde über die Jahrhunderte immer zweifelhafter, aber Geschlechtsorgane wollten und wollten sich nicht zeigen. 1777 endlich fand Carlo Mondini die Eierstöcke der Weibchen, die Hoden der Männchen blieben im Dunkeln. Fast 100 Jahre später kam vom Simon von Syrski aus Triest die Kunde, er habe einen Kandidaten gesichtet, das Lappenorgan, und vor allem habe er in ihm etwas gesichtet: Spermien. Aber die kamen ihm nur unscharf vor die Augen, er arbeitete mit der Lupe, misstraute dem Fortschritt bzw. dem Mikroskop. Freud sollte es prüfen, er sezierte um die 400 Aale, aber er fand – mit dem Mikroskop – nichts, gar nichts, weder Pro noch Kontra. Claus ließ ihn fallen, der Düpierte wandte sich anderen dunklen Fragen zu (in denen der Aal bisweilen auch eine Rolle spielte, in Traumdeutungen etwa, seiner naheliegenden Symbolkraft wegen).

Aber Freud hatte nichts übersehen, und seine glücklosen Vorgänger waren auch nicht blind: Aale haben kein Geschlecht – sind Intersexe –, solang sie sich im Wasser der Flüsse tummeln, aus deren Mündungen waren die in Triest. Die Sexualorgane bilden sich erst auf der schier endlosen Reise zu den Paarungsplätzen. Die waren das nächste Mysterium, ihm kam erst der Däne Johannes Schmidt 1922 näher: Er fischte sich, auf der Suche nach immer jüngeren Aalen, quer durch den Atlantik, die kleinsten – ein paar Millimeter lang – gingen ihm bei den Bermudas ins Netz, in der Sargassosee. Von dort lassen sie sich treiben, mit dem Golfstrom, 5500 Kilometer. Nach zwei, drei Jahren sind sie an Europas Küsten, sieben Zentimeter kurz und so durchscheinend, dass man sie Glasaale nennt.

Sie suchen, vermutlich mit dem Geruchssinn, Flüsse, diese schwimmen sie hinauf, dann werden sie groß, 12 bis 15 Jahre lang, und sie nehmen dunkle Farben an, die ihnen in schlammigen Gewässern Schutz gewähren. Sind sie ausgewachsen, machen sie sich im Herbst – in Scharen, ausgelöst von einem Vollmond – wieder auf den Weg, die Flüsse hinab, in denen und ihren Mündungen fängt man sie, längst nicht mehr so, wie Günther Grass es in der „Blechtrommel“ überlieferte (mit einem Pferdeschädel als Köder). Man fängt ohnehin immer weniger, seit den 1970er-Jahren sind die Bestände dramatisch eingebrochen. Die Gründe sind wenig klar, Umweltverschmutzung spielt mit, Verbauung der Flüsse auch, in Kraftwerksturbinen dürfen Aale nicht geraten.


Lukrativer Schmuggel. Man versucht, die Bestände durch Freisetzungen zu sichern, aber dazu braucht man erst einmal: Aale. Züchten kann man sie nicht, man kann sie nur mit Geduld großziehen, aus Glasaalen. Die werden vor allem in Frankreich und Spanien gefischt, teils für die Zucht, teils für den Verzehr, geregelt durch Quoten. Die helfen wenig: Der Schwarzmarkt ist weltumspannend, auch wenn er oft nur in regionalen Medien zum Thema wird: „Aale werden immer mehr zur Schmuggelware“, meldete die „Lausitzer Rundschau“ am 25. August, „Spanish man caught smuggling European eels worth HK$ 420.000“, ergänzte ein Blatt in Hongkong: Dort ist die Drehscheibe für die in Ostasien für 1500 US-Dollar/Kilo gehandelte Delikatesse.

Noch dunkler ist nur die Drehscheibe für die aus eigener Kraft wandernden Aale, in der Sargassosee hat man bis heute keine ausgewachsenen gefangen. Wie sollen sie auch hinkommen, wie den Weg finden, wie ihn bewältigen? Erst einmal stellen sie wieder die Farbe um, sie werden silbern, vermutlich dient das der Tarnung im Meer. Auch im Körper müssen sie vieles umbauen, sie wechseln ja vom Wasser der Flüsse in das der Meere, dessen Salz zieht Wasser aus ihnen heraus. Die dicke Haut schützt nur bedingt, die Aale müssen trinken – im Süßwasser tun sie das nicht –, und sie müssen das Salz ausscheiden.

Auf der anderen Seite stellen sie im Meer das Fressen ein, zehren von den Reserven. Das eingelagerte Fett reicht nicht ewig, sie bauen als Erstes den überflüssig gewordenen Darm ab, später auch einen Teil ihrer Knochen, Björn Busse (Hamburg) hat es eben gezeigt (Proc. Roy. Soc. B 20161550). Dann müssen sie schwimmen, sie sind stark und rasch, aber lang gab es Zweifel, ob sie es etwa vom Mittelmeer durch die Straße von Gibraltar schaffen, gegen die extreme Strömung. Elsa Amilhat (Perpignan) hat es getestet, sie hat acht Aale mit winzigen Sensoren für Wassertiefe, Temperatur und Licht ausgestattet. Die Signale werden gesendet, aus ihnen kann man schließen, wo in Zeit und Raum ein Aal gerade ist – und ob er noch am Leben ist: Meldet ein Sensor warmes Oberflächenwasser, aber kein Licht, dann ist der Aal im Magen eines Räubers, einer Robbe etwa. So erging es sechs der acht, zwei kamen durch, auch durch die Straße von Gibraltar (Scientific Reports 6:21817)

Von dort sind es wieder 5500 Kilometer, Luftlinie, Aale ziehen aber gewundene Wege, David Righton (Drottningholm) hat es verfolgt, an 707 mit Sensoren ausgestatteten Aalen von überall in Europa (Science Advances 5. 10.): Der Weg der meisten geht nicht geradewegs nach Westen, sondern erst nach Süden, zu den Azoren, von dort helfen Meeresströmungen. In denen schwimmen sie bei Nacht in relativ warmem Wasser in 200 bis 300 Metern Tiefe, bei Tag gehen sie auf tausend Meter, wohl um die Sexualorgane nicht vorzeitig ausreifen zu lassen. Im Frühjahr dann ist Paarungszeit, da sind viele an Ort und Stelle. Aber nicht alle, manche lassen sich noch ein Jahr Zeit. So lang können sie ihr Leben genießen, mit der Paarung ist es zu Ende.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 04.12.2016)

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