Durch das Dunkel der Erde

Soya bean germination
Soya bean germinationScience Photo Library / picturedesk.com
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Der größte Teil der Pflanzen, der der Wurzeln, liegt im Finstern, auch metaphorisch. Dabei ist es in ihm hell, dorthin wird Licht von oben geleitet.

Können Wurzeln sehen? Was für eine Frage: Wie sollen sie es im Stockfinsteren, und wozu?! Sie müssen sich anders zurechtfinden, aber wie sie das tun, musste mühsam erkundet werden, weil man auch ihnen nicht zuschauen kann in ihrer dunklen Welt. Man konnte nur experimentieren, der britische Physiologe Arthur Knight tat es 1806 so: Er befestigte Keimlinge auf einem Rad, das rasch gedreht wurde, in der Horizontalen oder der Vertikalen. In beiden Fällen trieb die Zentrifugalkraft die Wurzeln geradewegs nach außen. Als aber die Geschwindigkeit verringert wurde, gingen sie beim horizontal rotierenden Rad in einem Winkel von 45 Grad hinab: Die Schwerkraft zeigte ihre Macht, man nannte es Gravito- oder auch Geotropismus, es brauchte noch ein halbes Jahrhundert, bis man das fand, was nach unten zieht bzw. weist: Stärkekörner in der Wachstumszone der Wurzeln.

Aber orientieren sie sich in der Erde auch so? Nachsehen konnte man nur schweißtreibend, mit Werkzeugen vom Spaten bis zur Pinzette. Die Villacher Botanikerin Lore Kutschera hat sich das ab den 1950er-Jahren angetan, sie hat gegraben und gegraben, metertief, und gezeichnet, was ihr vor Augen kam, Ergebnis sind bis heute staunenswerte Wurzelatlanten. Alles ist selbst darauf nicht zu sehen: Ein vierwöchiger Winterroggen hat 80 Blätter mit einer Gesamtoberfläche von fünf Quadratmetern, ein wenig mehr als ein Tischtennistisch. Unterirdisch sind in der gleichen Zeit 13 Millionen Wurzeln und 14 Milliarden Feinwurzeln zu einer Fläche von zweieinhalb Tennisplätzen gediehen, Howard Dittmer zählte es in den 1930er-Jahren aus.

Aber Kutscheras Spurensicherung war fein genug, um zu erhellen, dass Wurzeln nicht einfach hinabziehen, sondern oft wieder hinauf und kreuz und quer, der Ausgräberin gingen die Augen über. Aber lang konnte sie nicht staunen, sie musste zeichnen, bevor das freigelegte Wurzelwerk in sich zusammenfiel. „Warum Wurzeln in alle Richtungen wachsen“ hat sich die 2008 Verstorbene oft gefragt.

Klar war ihr hingegen, dass das, was sie ergrub, nicht der Ursprung der Wurzeln war: Deren Ahnen verankerten keine Pflanzen im Boden. Denn Boden gab es nicht, als Pflanzen aus dem Wasser aufs Land stiegen. Das war Gestein, ein wenig verwittert, richtig aufgebrochen wurde es erst von Wurzeln. Die waren früh da, diesen Sommer hat Jinzhuang Xue (Peking) Spuren von 410 Millionen Jahre alten gesichtet (Pnas, 113, S. 9451), kurz darauf Liam Dolan (Oxford) die von Wurzelstammzellen, die sich vor 316 Mio. Jahren streckten (Current Biology 26, S. 1629). Da gab es hohe Bäume, ihre Wurzeln mussten tief in den Boden. Aber wozu waren die da, die den Boden bereitet hatten, die allerersten?


Nahrhafte Knollen. Wozu? Zum Speichern der Energie bzw. der Assimilate der Fotosynthese, an Land erbrachte sie mehr als im Wasser, die Überschüsse mussten gelagert werden. Diese Funktion haben Wurzeln bis heute, und mit ihr haben sie nicht nur Pflanzen groß gemacht: Den Grundbedarf der frühen Jäger und Sammler deckten Wurzeln – in einem Quadratkilometer Savanne in Ostafrika, der Wiege der Menschheit, stecken 40 Tonnen essbare –, und zum Stillen des heutigen Hungers tragen sie auch nicht knapp bei: Bei den Nutzpflanzen rangieren Erdäpfel auf Platz vier (hinter Mais, Reis, Weizen), es folgen Maniok, Süßkartoffel und Yam. Und als die zentrale Knolle einmal ausfiel, wankte die halbe Welt: Die Kartoffelfäule fegte 1845 Irland leer, dann sprang sie auf den Kontinent über und trug zu dem Unmut bei, der sich 1848 auf den Barrikaden entlud.

Die Natur berührte das nicht, sie ging ihren Weg: Ewig können Wurzeln nicht hinab, obwohl manche 80 Meter tief müssen, um auf Wasser zu stoßen. Das ist das eine Ziel, das andere sind Nährstoffe – beim Erschließen helfen vergesellschaftete Pilze und Bakterien –, aber die Suche danach wird von Gestein auf Umwege gezwungen. Und andere Wurzeln sind auch noch da: Pflanzen bemerken und erkennen sie, und sie reagieren ganz unterschiedlich: Begegnen sie ihresgleichen, Wurzeln der eigenen Art, halten sie ein. Sind es andere, strecken manche sich ungebremst in deren Territorium vor, manche ziehen sich zurück, Ariel Novoplansky (Ben Gurion University) hat es bemerkt (Pnas 101, S. 3863).

Sein Befund spricht gegen einen zweiten, der gerade Schlagzeilen füllt, den vom WWW, dem Wood-Wide-Web: Ihm zufolge sind alle Bäume eines Waldes durch die Wurzeln (und Pilze) miteinander verbunden, auch in Solidarität: Hungerleider werden versorgt – mit Nahrung, ja –, auch wenn sie zu ganz anderen Arten gehören. Darauf deuteten Experimente von Suzanne Simard in den 1990er-Jahren (Nature 388, S. 579), dann hat man lang nichts gehört, nun schmückt es Peter Wohlleben in seinem Bestseller „Das geheime Leben der Bäume“ zum Paradiesgärtlein aus.

Aber die Natur ist kein Idyll, auch unter Pflanzen herrscht Konkurrenz, bittere, und nicht alle Bakterien sind der Wurzeln Freund. Viele attackieren sie, an den Spitzen. Die haben eine Schleimhaube aus allerlei Abscheidungen zum Erschließen von Nährstoffen, auch zum Schutz, der wird bei Bedarf verstärkt: Erspüren Wurzeln einen argen Feind – das Bakterium E. solanacearum –, scheiden sie DNA aus und ein damit assoziiertes Protein, das schließt die Aggressoren ein, 25 Prozent gehen in der Klebefalle zugrunde. Die anderen finden eine Gegenwehr, sie schneiden sich mit Enzymen frei, Caitilyn Allen (Madison) hat es rekonstruiert (PLoS Pathogens e1005686).

So kommt immer mehr ans Licht, noch mehr ist nach wie vor im Dunkeln. Nur die Wurzeln selbst sind es nicht: Sie sehen doch, umwegig zumindest. Man weiß seit Langem, dass sie Sensoren für Licht haben – Phytochrome, sie aktivieren Wachstumshormone –, obgleich es im Boden nichts zu sehen gibt. Aber in den Wurzeln: Die überirdischen Teile der Pflanzen leiten Licht in den Bahnen, in denen sie auch Nährstoffe leiten, Xylem und Phloem. Das ist wieder lange schon bekannt. Aber das Licht geht auch in und durch die Wurzeln, Ian Baldwin (Jena) hat es eben gezeigt (Science Signaling 1. 11.). Wie das? Wie in Glasfaserkabeln, durch Reflexion an den Innenwänden der Leitungsbahnen. Und wozu das? Zur Information über die Bedingungen oben, die steuern so das Wachstum unten mit.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 11.12.2016)

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