Russische Strickanleitung für das Chanel-Kostüm

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FASHION-FRANCE-CHANEL(c) APA/AFP/PATRICK KOVARIK
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In der Sowjetunion bildete die Kleidermode auch Individualisierungsprozesse ab, die der Perestroika den Weg bereiteten. Nadel und Faden folgten nicht unbedingt dem westlichen Vorbild.

„Alltagskultur, zu der auch die Kleidermode gehört, hatte große Sprengkraft für die gesellschaftspolitische Entwicklung in der Sowjetunion“, berichtet Eva Hausbacher, Leiterin des Fachbereichs Slawistik der Uni Salzburg. Zusammen mit Slawistin Julia Hargaßner und Kulturwissenschaftlerin Elena Huber hat sie ein vom Wissenschaftsfonds FWF gefördertes Projekt über Mode und Wertewandel in der Sowjetunion der Jahre 1953 bis 1985 durchgeführt.

Untersucht wurde zum einen, inwieweit Transfers und Wechselwirkungen mit dem Westen bestanden und zum anderen, wie sich kreative Prozesse im Modebereich in gesellschaftliche Veränderungen übertrugen. Dabei befasste sich Hargaßner etwa mit Literatur und Filmen, deren Aussage auch durch die Kleidung und den Stil der Figuren beeinflusst werden.

Elena Huber wiederum untersuchte Frauenzeitschriften und Ratgeberliteratur in Moskauer Archiven und führte Interviews mit Zeitzeuginnen durch. Sie stieß dabei in einer Zeitschrift aus den frühen Sechzigerjahren auch auf eine Strickanleitung für ein Chanel-Kostüm. Aus ihrer Sicht ein Hinweis darauf, wie stark sich Frauen in der Tauwetterzeit unter Chruschtschow auch modisch am Westen orientierten.

Rock 'n' Roll und Schlaghosen

Unter Leonid Breschnew ab 1964 wendete sich das Blatt. Auch der Modejournalismus hatte sich ideologischen Imperativen zu unterwerfen, die Direktiven für Geschmack und Stil gaben. Nach dem sowjetischen Dresscode hatte Kleidung schlicht und funktional zu sein. Materielle Dinge sollten den Sowjetmenschen nicht interessieren, bestenfalls wurde auf Trachten und Folklore zurückgegriffen. Dennoch entwickelte sich auch in dieser „bleiernen Zeit“ eine Gegenströmung, die sich etwa in der Stiljagi-Bewegung der Siebziger zeigte, die Rock 'n' Roll und Schlaghosen aus den USA nachahmte.

„Das Selbernähen wurde bisher als Praxis eingeschätzt, die sich aus dem Warenmangel in der Sowjetunion ergab“, erklärt Hausbacher. „Tatsächlich hat das Phänomen des Do-it-yourself jedoch auch eine andere Konnotation, nämlich die der Individualisierungsprozesse und -strategien im Bereich der Kreativität.“

Als Gegenpol zum vermännlichten Frauenbild, das die Arbeitskraft im Produktionsprozess betonte, bildete sich in der Alltagskultur ein sehr femininer Stil heraus. Dieser Wertewandel, der auf der Herausbildung von alternativen Modellen von Bekleidungsverhalten, Konsum und Identität basiert, habe die wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Veränderungen der Perestroika-Zeit eingeleitet, so die Forscherinnen.

Neben Parallelen zum Westen ließ sich „eine eigenständige und einzigartige Entwicklung der sowjetischen Mode feststellen“, sagt Hausbacher. Dadurch werde das „Bild der bleiernen und statischen Gesellschaft widerlegt. Zu sprechen sei von „einer wesentlich dynamischeren Entwicklung der sowjetischen Gesellschaft als in den bisherigen Forschungen zur Stagnationszeit angenommen“.

Hausbacher sieht darin auch Ansatzpunkte für künftige Projekte; denn nicht nur Mode, sondern auch andere Aspekte der Alltagskultur dürften eine ähnliche Bedeutung für die Öffnung der sowjetischen Gesellschaft gehabt haben.

Die Materialsammlung erlaubt jedenfalls interessante Anknüpfungspunkte für die wirtschaftshistorische Osteuropaforschung sowie die Fashion Studies, die ihre Aufmerksamkeit bisher kaum auf Osteuropa richteten. Das Spannungsverhältnis von individueller Fertigung und industrieller Produktion oder die Untersuchung von Konsumstrategien in Zeiten des Warendefizites bieten sich an.

Huber arbeitet zur Zeit am Thema „Kulinarik in Russland“, Hausbacher interessiert sich besonders für die Kluft zwischen Metropole und Provinz – und wie sich diese in der Kleidung zeigt.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 04.02.2017)

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