Psychologie: Das Böse in uns allen

Dalai Lama
Dalai Lama(c) EPA (Dai Kurokawa)
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Gerichtspsychiater Reinhard Haller hat einen Blick in die Gehirne von Verbrechern geworfen. Das Böse kommt oft in ganz normaler Gestalt. Laut Haller steckt in uns allen so etwas wie ein Moralinstinkt.

Von dem hätte ich das nie geglaubt.“ Eine immer wieder gehörte, fast schon gesetzmäßige Reaktion, wenn ein grausames Verbrechen von jemandem in unserer unmittelbaren Umgebung verübt wird. Und ein Satz, der die Fassungslosigkeit ausdrückt – dass ein Mensch, den man im Alltag erlebt, der auf der Straße immer so freundlich gegrüßt hat, plötzlich als Bestie dasteht. Und auch ein Satz, der schmerzhaft vor Augen führt, dass das Böse allzu oft in ganz normaler, geradezu unauffälliger Gestalt daherkommt.

Als zwei Burschen im Schweizer Tessin etwa, die gerade noch friedlich mit der Familie zu Abend essen – und kurz darauf ein Mädchen fesseln, zwei Erwachsene brutal ermorden. Kein gehörnter Teufel, kein wilder Dämon, keine abnorme Bestie – es sind häufig Menschen wie du und ich, die auf einmal für uns das Böse verkörpern. Und ein unangenehmes Warnsignal, dass auch wir selbst nicht davor gefeit sind, zum Verbrecher zu werden.


Ganz normal. „Das Böse ist im Menschen vorhanden wie das Gute“, sagt Gerichtspsychiater Reinhard Haller. Und es braucht einfach nur bestimmte Bedingungen, unter denen es auch freigesetzt wird. In seinem neuen Buch „Das ganz normale Böse“ schildert Haller aus seinen Gesprächen mit Serienkillern, Sexualmördern, Terroristen, Räubern oder Kinderschändern, wie es dazu kommt, welche Mechanismen wirksam werden, um einen Menschen grausame Taten vollbringen zu lassen. Dass viele von ihnen nach außen hin unauffällig waren. Dass man ihnen eine solche Tat eigentlich nie zugetraut hätte. Doch in ihrem Inneren stieß er immer wieder auf psychologisch höchst auffällige Bilder – auf erlittene Kränkungen, Selbstzweifel, Depressionen, manchmal auch falsch antrainierte Reflexe: „Und manche haben dann das Pech, dass viele dieser Dinge zusammenkommen.“

„Mein Hirn hat falsch getickt“, „In mir muss etwas Krankes abgelaufen sein“ – Begründungen wie diese hat Haller oft gehört. Böse? Oder einfach krank? Der Fall von Joseph Whitman, der 1966 an der Universität von Austin, Texas, 17 Menschen erschossen und 66 verletzt hat, lässt eben diese Frage offen. Bei seiner Obduktion wurde zwar ein Tumor in genau jenem Bereich des Gehirns gefunden, der bei starken Hassgefühlen aktiv wird, doch, so Haller: „Andere, die denselben Tumor haben, rasten nicht aus.“ Letztlich ist ein Begriff entscheidend – der freie Wille.

Und doch gibt es Situationen, in denen selbst der Gesetzgeber diese Konvention aussetzen lässt – im Vollrausch, im Affekt, bei Schwachsinn. Doch für Richter, Geschworene, selbst für den ausgebildeten Mediziner ist es immer eine Gratwanderung zu erkennen, wie sehr der freie Wille durch äußere Einflüsse oder Krankheit beeinflusst wird. „Es ist manchmal gar nicht möglich, das präzise zu sagen.“


Verständnis für Verbrechen. Und auch die Umstände, warum jemand ausrastet, spielen eine Rolle. Der Vierfachmörder von Strasshof etwa, der am 1.Juli 2008 seine Schwester, seinen Bruder und deren Ehepartner erschossen hatte, bekam mit 20 Jahren Haft eine verhältnismäßig milde Strafe. Und das, obwohl er sich im Prozess zwar geständig, jedoch nicht reuig gab: „Ich schlafe jetzt viel besser“, erklärte er. Und dennoch zeigten die Geschworenen Verständnis für seine Tat: Seine Familie habe ihn jahrelang bösartig behandelt, verleumdet, sogar – ohne jegliche Grundlage – als Kinderschänder denunziert. Das entschuldige die Tat zwar nicht, erwecke aber ein gewisses Verständnis für die Motivlage des Täters.

Aber auch zeitliche und kulturelle Faktoren spielen eine Rolle – die Messlatte, was verwerflich ist, ist nicht immer gleich hoch. Klar, durch alle Gesellschaften und Kulturen zieht sich eine Art Grundkonsens der Dinge, die als böse betrachtet werden. Mord, Vergewaltigung, Diebstahl etwa gelten unabhängig von jeder rechtlichen und religiösen Bewertung als böse. Doch betrachtet man etwa Pädophilie, heute eines der meistgeächteten Verbrechen, sieht die Sache schon anders aus. In manchen Kulturen galt und gilt sie als normal. Im antiken Griechenland gehörten sexuelle Beziehungen zu Knaben sogar zum guten Ton.

Böse Mitläufer. Und wie muss das Böse beurteilt werden, wenn ein System den Begriff pervertiert? Wenn etwa Menschen das verquere Weltbild vermittelt wird, es gebe so etwas wie „unwertes Leben“? Dieser Logik folgend könnte man argumentieren, dass den Tätern ja gar nicht bewusst gewesen sein könnte, dass sie Böses tun, ja, dass sie sogar im Gegenteil mit der grausamen Ermordung von Juden, sogenannten Zigeunern oder Homosexuellen etwas Gutes tun.

„Die Mittäter sind damals dem Effekt unterlegen, dass Böses autorisiert war“, sagt Haller. Man weiß, dass etwas böse ist, aber tut es trotzdem – die Verantwortung wird einer höheren Instanz zugeschrieben. Und mit dieser Instanz im Rücken kann man dem in sich schlummernden Bösen plötzlich freien Lauf lassen. Ein Effekt, der durch das Milgram-Experiment eindrucksvoll nachgewiesen werden konnte – Versuchspersonen teilten bereitwillig starke Stromstöße an Opfer aus, weil ihnen von (nicht echten) Wissenschaftlern gesagt wurde, dies sei Teil eines Versuchs. Und das Experiment wolle man ja wohl nicht scheitern lassen.


Moralinstinkt. Ist das Böse also ein Teil des Menschseins, der nach außen dringt, sobald man ihm die Gelegenheit dazu lässt? Nein, denn laut Haller steckt in uns allen so etwas wie ein Moralinstinkt, der uns sagt, was gut und was böse ist. Dass es ihn gibt, und dass es auch Menschen gibt, die ihn unter Druck nicht einfach ausschalten, das beweisen unter anderem jene Menschen, die in der NS-Zeit abgelehnt haben, an Gräueltaten mitzuwirken. Selbst, wenn sie dafür geächtet, bestraft oder gar getötet wurden.

Doch wie sah es in den Köpfen jener Menschen aus, die all die Gräueltaten entworfen oder aus dem Hintergrund gesteuert haben? Konnte man in ihren Gehirnen irgendetwas lokalisieren, das sie als böse erkennbar machte? Nein. Die Untersuchungen der Hauptkriegsverbrecher vor dem Nürnberger Tribunal ergaben keine Hinweise auf Störungen oder psychische Krankheit, schreibt Haller. Mehreren erfahrenen Psychologen wurden ihre Psychotests anonymisiert vorgelegt – ihre Einschätzungen der Charaktere reichten von Bürgerrechtlern bis zu Intellektuellen. Von außen betrachtet also ganz normale Menschen. Die auf der Straße womöglich freundlich gegrüßt haben. Und von denen man vielleicht sogar gesagt hätte: „Von dem hätte ich das nie geglaubt.“

Reinhard Haller: „Das ganz normale Böse.“ 224 Seiten, Ecowin Verlag, 19,95 Euro

("Die Presse", Print-Ausgabe, 25.10.2009)

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