Botanik: Grüne Geheimnisse auf den Dächern Wiens

Auf den Dächern Wiens wachsen Pionierpflanzen
Auf den Dächern Wiens wachsen PionierpflanzenBesener/Lapin
  • Drucken

Die Stadt als Lebensraum für die Natur: Forscherinnen erkunden, welche Pflanzenarten sich auf begrünten und auf nicht menschlich genutzten Flachdächern ansiedeln. Ihr Beitrag für die Biodiversität wird erstmals untersucht.

„Wir waren überrascht, wie hoch die Rücklaufquote war: Fast überall, wo wir angefragt haben, konnten wir Zugang zum Flachdach erhalten“, sagt Katharina Lapin vom Institut für Botanik der Boku Wien. „Die Leute wollen wissen, was auf den Dächern wächst: Es gibt hier einen großen Wissensdrang.“ Umso erstaunlicher war es, dass bisher keine Forschungen darüber bekannt sind, was auf den Dächern von Wien so grünt und blüht. Gemeinsam mit Inga-Maria Besener und Julia Virgolini erklimmt die junge Botanikerin seit einigen Wochen fast täglich die Dächer dieser Stadt, um herauszufinden, wie sich die Natur diesen Lebensraum zurück erobert. Das Projekt wird vom Jubiläumsfonds der Stadt Wien für die Boku gefördert.

Es geht den Wissenschaftlerinnen nicht um Tomatenpflanzen auf Dachterrassen oder den Rasen beim Swimmingpool des Penthauses. Sie wollen wissen, was dort passiert, wo kein Mensch hin steigt, wo die Natur eigentlich ihre Ruhe hat. „Dieser Lebensraum auf Flachdächern und auf begrünten Dächern wurde vom Menschen geschaffen. Uns interessiert, ob sich dort Pflanzen ansiedeln, deren natürlicher Lebensraum immer weniger wird. Das gilt etwa für Pflanzen aus Trockenrasengesellschaften, die es im städtischen Gebiet kaum mehr gibt“, sagt Lapin.

Auf Banken und Supermärkten

Das Team nutzte einerseits Satellitenbilder im Internet zur Recherche, wo flache und begrünte Dächer liegen, die vom Menschen nicht betreten werden. Und sie machten über Vorträge und Flyer auf ihr Begehr aufmerksam, Zugang zu diesen Flächen zu erhalten. „Wir haben ganz gezielt Firmen angefragt, etwa bei Lebensmittelhändlern und Banken“, erzählt Lapin von den logistischen Herausforderungen. Und tatsächlich fand sich meistens jemand, der den Weg aufsperrte und die Wissenschaftler in das bisher unerforschte Gebiet vordringen ließ.

Besener/Lapin

Etwa fünf bis zehn Quadratmeter pro Dach werden nach wissenschaftlichen Kriterien „abgegrast“: Detailreich wird vermerkt, welche Pflanzenarten hier wachsen. Über jeweils einen Quadratmeter wird ein kleinteiliger Raster aus Wollfäden gezogen, um auf den Dezimeter genau zu belegen, wie sich die Pflanzenpopulation über das Jahr verhält: Wie ist die Zusammensetzung der Artengemeinschaft? Kommen gefährdete Pflanzen vor? Gibt es mehr heimische oder mehr eingeschleppte Arten?

Enger Raster aus Wollfäden für das Bestimmen der Pflanzen
Enger Raster aus Wollfäden für das Bestimmen der PflanzenBesener/Lapin

Jeweils von April bis Oktober finden heuer und nächstes Jahr die Datenaufnahmen statt: an über 50 Standorten in ganz Wien. Verglichen werden Flachdächer mit Kies und Schotter, auf denen sich Pflanzen ohne menschlichen Einfluss angesiedelt haben, und „extensiv begrünte Dächer“, die typischerweise etwa zehn Zentimeter Substrataufbau aufweisen, auf dem vom Bauträger bereits Gräser, Kräuter und andere pflegearme Pflanzen aufgebracht wurden.

„Freie unbebaute Flächen sind im urbanen Raum sehr selten: Dachbegrünungen haben seit den 1980er-Jahren das Ziel, neue Lebensräume für Flora und Fauna zu schaffen“, so Lapin. Bisher wurde deren Funktionen vor allem für die Klimawirkung, die Gebäudeisolierung oder die Speicherung von Regenwasser untersucht. Doch eine Studie, was diese Lebensräume für die Biodiversität der Stadt bedeuten, fehlte noch.

„In Chicago oder Seattle gibt es ähnliche Untersuchungen. Wir wollen in Wien aber erstmals die Frage für eine ganze Stadt beantworten“, betont Lapin, die nicht nur in Wien, sondern auch an der University of Cambridge in England forscht. Als studierte Landschaftsplanerin kannte sie Dachbegrünungen bereits von der angewandten Seite. Doch die Botanikerin in ihr will jetzt wissen, wie die Ökologie von Lebensräumen ist, die vor ihr noch keiner untersucht hat.

Gewollt begrünt oder von der Natur besiedelt?
Gewollt begrünt oder von der Natur besiedelt?Besener/Lapin

„Ein Ziel ist, wie man das Management der Pflanzengesellschaften verbessern kann: Bisher wird durch gut gemeinte Pflege vielleicht zerstört, was eigentlich wertvoll ist“. So fand ein Schweizer Kollege heraus, dass man in Städten selten gewordene Wiesenorchideen auf Flachdächern gut ansiedeln und damit schützen kann.

Ein Leitfaden wird erstellt

Ob Mähen, Düngen oder das Ausbringen von Unkrautvernichtern sinnvoll oder störend für das Ökosystem ist, werden die Daten erst zeigen. Ein Kooperationspartner ist die MA 22, die Naturschutzabteilung der Stadt Wien, mit der aus den Ergebnissen ein Leitfaden erstellt werden soll, mit dem Dachbesitzer aktiv die Vielfalt des Lebens fördern können. Ein Blog auf www.wildroofs.at informiert die Öffentlichkeit über den Fortschritt der Forschungen und zeigt die atemberaubenden Ausblicke von den Dächern über der Stadt.

LEXIKON

Pionierpflanzen nennt man Arten, die eine vegetationsfreie Fläche erstbesiedeln. Sie werden als Samen oder Sporen über den Wind vertragen oder erreichen durch Vögel das Gebiet.Typische Pionierarten auf Dächern sind Sedumarten (Fette Henne) und Gräser wie das Zusammengedrückte Rispengras. Auch die Wollkopf-Kratzdistel und die Gelb-Skabiose sind in Wien zu finden. Auf begrünten Flachdächern werden v. a. Schwingel, Gedrängte Mittagsblume und Scharfer Mauerpfeffer gesetzt, die Hitze und Kälte überstehen.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 08.04.2017)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.