Ameisen explodieren zum Wohle der Kolonie

Die große Holzameise (l.) ist ins Revier der kleinen roten eingedrungen, woraufhin sich diese in den Fühler der Großen verbeißt und aus ihrem Hinterleib giftiges gelbes Sekret platzt. Das endet für beide tödlich.
Die große Holzameise (l.) ist ins Revier der kleinen roten eingedrungen, woraufhin sich diese in den Fühler der Großen verbeißt und aus ihrem Hinterleib giftiges gelbes Sekret platzt. Das endet für beide tödlich.(c) Daniela Magdalena Sorger
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Rossameisen aus Asien bringen ihren Hinterleib zum Platzen, um Feinde abzuwehren. Wie sich diese Selbstaufopferung entwickelt hat, erkunden heimische Forscher. Und suchen dabei nach Mikroben, die Plastikmüll zerlegen.

Das ist sehr selten im Tierreich, eine Selbstaufopferung in dieser extremen Form“, sagt Herbert Zettel vom Naturhistorischen Museum Wien (NHM). Sein Team untersucht gemeinsam mit der Boku und der TU Wien asiatische Ameisen, die salopp „exploding ants“ genannt werden: explodierende Ameisen. Wissenschaftlich heißt diese Artengruppe Colobopsis clylindrica und gehört zur Gruppe der Rossameisen. Das Besondere an ihnen: Die Arbeiterinnen lassen einen Teil des Körpers explodieren, um Feinde abzuwehren.

Der klebrige Inhalt der Drüse, der dabei austritt, ist so giftig, dass der Angreifer – etwa eine fremde Ameise oder ein anderes Insekt – stirbt, auch wenn er größer ist als die explodierte Ameise. Doch der Verteidigungsmechanismus kostet auch die kleine Arbeiterin selbst das Leben.

Hoch soziale Insekten opfern sich eher

Eine tödlich endende Selbstaufopferung ist bei Honigbienen bekannt und bei Termiten, wenn sie ihr Nest verteidigen. „Bei hoch sozialen Insekten wiegt der Verlust eines Individuums weniger, und der Nutzen für die eigenen Gene ist größer“, sagt Zettel. Denn im Insektenstaat vermehrt sich nur die Königin: Die Arbeiterinnen versorgen ihre Schwestern, die untereinander enger verwandt sind, als es eine Arbeiterin mit eigenem Nachwuchs wäre. Biologisch ergibt es also Sinn, das Nest mit der eng verwandten Brut zu schützen und dabei eine ohnehin nicht fortpflanzungsfähige Arbeiterin zu opfern.

Die Forscher fanden bei den explodierenden Ameisen auch bemerkenswert, dass sich die Tiere sogar weit weg vom Nest in solch tödliche Zweikämpfe begeben. Es geht also nicht direkt um die Verteidigung der Kolonie. Die Annahme war, dass die Ameisen ihre „Felder“ schützen wollen. Diese Arten kommen im südostasiatischen Urwald in den Baumkronen vor und grasen in 30 bis 50 Metern Höhe die Oberfläche von Blättern ab. Wer in das Blätterdach hinaufsteigt, kann die kleinen rötlichen Ameisen beobachten, wie sie Blatt für Blatt mit den Fühlern betasten und mit den Kieferwerkzeugen abschaben. „Der Biofilm auf den Blättern dient vermutlich als Nahrung, und diese Blätter müssen verteidigt werden“, sagt Zettel. In dem vierjährigen Projekt, das vom Wiener Wissenschafts-, Forschungs- und Technologiefonds (WWTF) finanziert wird, fliegen die Forscher regelmäßig auf die Insel Borneo, um Experimente zur Nahrungsaufnahme und zum Verteidigungsmechanismus zu machen.

Ins Blätterdach hinaufkraxeln

Eine Kooperationspartnerin an der Universität von Brunei koordiniert die Exkursionen in das Kuala Belalong Field Studies Centre, eine Forschungsstation im unberührten Regenwald, die nur über eine Flussfahrt im Einbaum erreichbar ist.

Alexey Kopchinskiy von der TU Wien erwies sich als exzellenter Baumkraxler, der die Nester im Blätterdach des Urwalds aufspürt, die Ameisen filmt und Material sammelt. Im Labor von Irina Druzhinina, TU Wien, werden nun die Mageninhalte der Ameisen und die Blattoberflächen chemisch untersucht.

In der Mikrobengemeinschaft (Mikrobiom) kommen wahrscheinlich auch Mikroorganismen vor, die nicht nur Zellulosen und den Holzstoff Lignin zerlegen, sondern auch Polyester und Polymere wie Cutin, ein Wachs, das Pflanzenoberflächen bedeckt.

Moderne Kunststoff-Polymere wie PET ähneln der Struktur von Cutin. Daher hoffen die Forscher, hier Pilze oder Bakterien im Mikrobiom der Ameisen und der Blätter zu finden, die sowohl Cutin als auch künstliche Polymere zerlegen können. Dann wäre ein Ansatz gefunden, um Plastikmüll biologisch abbaubar zu machen.

Plastikmüll abbauen und Gifte finden

Im Labor am IFA Tulln der Boku analysieren Forscher um Rainer Schuhmacher inzwischen die Substanzen des Drüsensekrets, um die Giftstoffe zu identifizieren – und Stoffe zu finden, die antimikrobiell wirken.

Die Aufgabe des NHM ist es, die Evolution und den Stammbaum der Artengruppe zu entwirren. „Diese Ameisen sind relativ unerforscht und morphologisch schwer zu unterscheiden“, sagt Zettel. Viele Tausend Exemplare wurden nun mit moderner Technik vermessen, verglichen und fotografiert. Nicht nur aus dem Urwald gesammelte Tiere, sondern auch Material von Museen weltweit, die in ihren Sammlungen diese Ameisen dokumentiert hatten.

Es gibt pro Art verschiedene Morphen, also Untergruppen – z. B. große und kleine Arbeiterinnen und Soldatinnen –, die völlig unterschiedlich aussehen. „Das Problem ist, dass sich die gleichen Morphen verschiedener Arten viel ähnlicher sehen als die unterschiedlichen Morphen derselben Art“, sagt Zettel. Daher werden die morphologischen Daten mit DNA-Auswertungen verglichen, die bei der Artbestimmung aussagekräftiger sind als die optische Erscheinung.

Ein ganz besonderes Aussehen haben die Türschließer-Morphen: Ihr Kopf ist vorn abgeplattet und rund bzw. zylindrisch wie ein Stöpsel. Mit ihm kann die Ameise den winzigen Eingang zum Nest im Baumstamm zustöpseln und so unerwünschtes Eindringen verhindern.

Eine andere auffallende Körperform, die die Forscher nun unter die Lupe nahmen, erwies sich jedoch ohne biologische Funktion: Die drastisch vergrößerten Hinterleiber mancher Exemplare waren bloß mit parasitischen Fadenwürmern gefüllt, wie die Durchleuchtung im Micro-CT ergab.

LEXIKON

Colobopsis cylindrica, kurz Cocy, heißt die Artengruppe der Ameisen, die in Südostasien vorkommt und im Blätterdach des Regenwalds lebt. Zur Verteidigung kann der Hinterleib explodieren, wobei das klebrige Sekret den Angreifer (andere Insekten oder Spinnen) tödlich verletzt. Wissenschaftler bestimmen nun die einzelnen Arten dieser Gruppe nach genetischen und morphologischen Merkmalen neu. Die Sekrete werden ebenso analysiert wie die Mikroben der Ameisen und ihrer Nahrung, um neue natürliche Substanzen nutzen zu können.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 06.05.2017)

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