Netzwerkanalysen: Ansteckung im Computer

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Mikado(c) Bilderbox (Erwin Wodicka)
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Mithilfe von Netzwerkanalysen lässt sich die Ausbreitung von Grippe ebenso studieren wie die Verbreitung von Ideen oder Finanzentscheidungen.

Schon im April haben US-Forscher vorhergesagt, dass der November der Höhepunkt der Ansteckungen mit der Neuen Grippe sei. Prognostiziert wurde das mithilfe eines relativ einfachen Netzwerkmodells: eines „SIR-Modells“. Jeder Akteur im Netzwerk kann demnach drei Zustände einnehmen: Er ist empfänglich für eine Infektion („susceptible“), er ist „infiziert“ oder er hat die Krankheit ausgeheilt („recovered“) und ist immun. Dazu gibt es noch einen vierten Zustand: Der Patient ist tot. Das lässt sich relativ einfach in mathematischen Formeln beschreiben, man verknüpft das mit geografischen Daten und schätzt aus experimentellen Daten die Parameter des Modells, etwa die Ansteckungs- oder Heilungsraten. Dann kann untersucht werden, welche Auswirkungen z.B. das Impfen der Bevölkerung hat. Und es wurden Vorhersagen getroffen: etwa, dass bis Jahresende 60 Prozent der Amerikaner mit der Schweinegrippe infiziert sind und es 2500 bis 25.000 Todesopfer gibt.

Diese Vorhersagen können in einigen Monaten empirisch überprüft werden. Stefan Thurner, Professor für die Wissenschaft Komplexer Systeme an der Medizin-Uni Wien, wartet gespannt auf die Ergebnisse: „Es würde mich freuen, wenn das einfache Netzwerkmodell passt.“ Sollte es allerdings nicht funktionieren, hat er eine Idee in der Schublade, die er dann sogleich durchziehen will: ein Modell, das auch soziale Beziehungen einbezieht und damit wesentlich realitätsnäher ist. „Wenn sich Menschen anstecken, dann verändert sich ihr soziales Verhalten, es verändern sich die sozialen Netzwerke“, sagt Thurner. „Sobald es Ansteckungen gibt, ändert sich lokal die Situation: Die Menschen reduzieren z.B. den Kontakt mit Angesteckten oder reisen weniger.“ Dann wird das System komplex.


Soziale Netzwerke. In diesem Gebiet ist Thurner daheim: Seit Langem beschäftigt er sich mit der Konstruktion von Netzwerkmodellen in Bereichen, in denen auch soziale Phänomene eine Rolle spielen. Etwa in der Finanzwirtschaft, bei Meinungsbildungsprozessen, der Wählerdynamik oder der Epidemiologie. Das Problem dabei ist, dass man soziale Beziehungen und Netzwerke nur sehr mühsam messen kann. Für die Modelle sind aber reale Daten notwendig, um die Parameter in den Gleichungen schätzen zu können. Es gibt aber Methoden dafür: zum Beispiel in Onlinespielen wie „Second Life“. Michael Szell, ein Mitarbeiter von Thurner, hat ein Onlinespiel gebaut, in dem 300.000 User ihre virtuellen Geschöpfe steuern und so eine virtuelle Gesellschaft bilden. „Obwohl das eine sehr artifizielle ,Gesellschaft‘ ist, agieren die Menschen sehr ähnlich wie in der Realität – in ihren ,ersten Leben‘.“ Mit solchen Daten können Modelle schließlich gefüttert werden.

Von der Struktur ist das dynamische Grippemodell, das ihm vorschwebt, ähnlich mit Modellen, die die Ausbreitung von Meinungen beschreiben. „Die Leute, mit denen ich spreche, werden von dem Gesagten quasi angesteckt.“ Die Mathematik der Modelle ist oft sehr ähnlich, den Unterschied machen die Daten, mit denen die Parameter bestimmt werden.

Das ist bei Thurners zweitem wissenschaftlichen Standbein etwas einfacher: An der Medizin-Uni beschäftigt er sich mit Netzwerken in den Life Sciences. Er will mit seiner Arbeitsgruppe verstehen, wie Leben funktioniert. Wie z.B. eine Zelle in Abhängigkeit von Umgebung und anderen Zellen zur Krebszelle wird. Wenn man diese Dynamik besser verstünde, wird es vielleicht möglich, den Prozess so zu beeinflussen, dass er sich umkehrt. „Das ist unser Fernziel“, so Thurner.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 15.11.2009)

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