Wie ewig ist das Eis?

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Symbolild. (c) imago/blickwinkel (P. Royer)
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Würde die Antarktis wieder so grün, wie sie einst war, würden die Meeresspiegel um 60 Meter steigen. Aber danach sieht es nicht aus, im Gegenteil.

Vergangenen Herbst zeigte ein Fossil aus der Antarktis, dass Vögel schon früh anders kommunizieren konnten als ihre Ahnen, die Saurier. Der Fund war alt, in jeder Hinsicht: 20 Jahre lang war im Fundus eines Museums verstaubt, was vor 66 Millionen Jahren gelebt hatte. Erhalten hatte sich etwas, was es selten tut, weil es nicht aus Knochen besteht, sondern aus Knorpel: ein Kehlkopf. Er war asymmetrisch gebaut, das erlaubt verschiedene Laute, so etwas kennt man von Sauriern nicht, die konnten nicht pfeifen wie Vögel (Nature 538, S. 502).

Und die pfiffen vor 66 Millionen Jahren just in der Antarktis? Die war bewaldet, auch mit Palmen, man weiß es vor allem von Pollen weit draußen in Sedimenten, an Land findet sich selten etwas, es liegt bis zu 4,5 Kilometer unter Eis. Das baute sich vor 34 Millionen Jahren auf, da trennte die Plattentektonik den Kontinent von Amerika. Das öffnete die Drake-Straße zwischen Pazifik und Atlantik, das brachte Bewegung ins Meer, die des antarktischen Zirkumpolarstroms, der schnitt den fast runden Kontinent ab von Wärmezufuhr aus milderen Regionen.

So stellte man sich das vor, seit James Kennet 1977 die Gateway-Hypothese publizierte (Geophys. Res. 82, S. 3843). 2003 kam eine Gegenhypothese: An einem abrupten Abfall des CO2in der Luft sei die Antarktis vereist. Das muss kein Widerspruch sein: Die isolierende Meeresströmung brachte auch nährstoffreiches Wasser aus der Tiefe, es ließ Algen blühen, die holten CO2 aus der Luft ins Meer (Science 352, S. 34).

Heute tut das anderes Leben, an eisfreien Stellen am Rand der Antarktis gedeihen Moostierchen, winzige Mehrzeller, die riesige und langlebige Kolonien bilden und so viel CO2 aus der Atmosphäre holen wie 50.000 Hektar Regenwald (Current Biology R789). Das ist eine der Überraschungen des immer noch dunkelsten Kontinents, dessen Existenz man schon in der Antike postulierte: Es musste ein Gegengewicht zu den Landmassen des Nordens geben, irgendwo im Süden, deshalb nannte man es Terra australis, Land des Südens. Aber nicht einmal James Cook kam ihm nahe genug, so ging der Name „Australien“ 1814 an den anderen, kaum halb so großen Kontinent.

Auf den ganz im Süden stieß man erst sechs Jahre später, und noch zum Jahrhundertende war die Terra australis so incognita, dass der 6. Internationale Geographische Kongress 1895 in London eine Resolution verabschiedete: „The exploration of the Antarctic regions is the greatest piece of geographical exploration still to be undertaken.“ Bald darauf machte sich ein Brite auf den Weg, und Leonard Darwin, ein Sohn von Charles und Präsident der Royal Geographical Society, verabschiedete ihn mit imperialer Geste: „Scott is going to prove once again, that the manhood of our nation is not dead!“


70 Prozent des Süßwassers. Der Held der Nation blieb im Eis, den Wettlauf entschied Amundsen für sich, dann wurde es wieder ruhig. Neues Interesse kam gegen Ende des 20. Jahrhunderts, da überbordete das Selbstbewusstsein der Menschheit nicht mehr so: Erst tat sich über der Antarktis das Ozonloch auf, dann die Drohung mit den 60 Metern: So hoch würden die Meere steigen, wenn der Kontinent – in seinem Eis stecken 70 Prozent des Süßwassers der Erde – wieder ergrünen würde.

Danach sieht es nicht aus, ganz im Gegenteil, das Eis wächst, sowohl nach oben als auch in der Fläche. Und gegen den globalen Trend sinken die Temperaturen ausgerechnet auf der Halbinsel im Westen, die lang die größten Sorgen bereitete, weil sie sich seit 1947 um 0,5 Grad pro Dekade erwärmt hatte, daran mag auch liegen, dass regional Moos vordrang (Current Biology 18. 5.). Aber 1998 drehte sich alles um, seitdem wird es pro Dekade 0,5 Grad kühler. John Turner (British Antarctic Survey) führt es auf ein natürliches Klimaphänomen zurück, die Interdecadel Pacific Oscillation (Nature 535, S. 411).

Und schon seit 1978 breitet sich das Schelfeis um die Antarktis herum aus, nur in wenigen Flachzonen an der Küste ist es getaut – dort gedeihen die Moostierchen –, weiter draußen dringt es immer weiter nach Norden, es bereitet sich selbst den Weg: Wo es schmilzt, sinkt es ein paar hundert Meter und legt sich als „antarktisches Zwischenwasser“ wie ein Deckel über das Tiefenwasser. In dem stecken Wärme und viel CO2, beides bleibt unten, Alexander Haumann (ETH Zürich) hat es bemerkt (Nature 537, S. 89).

Und in die Höhe türmt das Eis sich auch, das über dem Festland: Die Winde zur Antarktis hin sind wärmer geworden, die Wolken dicker – warme Luft nimmt mehr Wasser auf –, es fällt mehr Schnee. Das ist schon lang klar, strittig war, ob der Schnee die Gletscher wachsen lässt oder ob das zusätzliche Gewicht sie rascher zum Meer treibt. Daten aus Eisbohrkernen und Simulationen von Klimamodellen unterstützen Ersteres: Jedes Grad Wärme bringt fünf Prozent mehr Schnee. Der macht die Gletscher mächtiger und sorgt rein rechnerisch dafür, dass das in ihnen gebundene Wasser die Meeresspiegel in 100 Jahren um drei Zentimeter sinken lässt. Zu dem Befund kam Katja Frieler vom Potsdamer Klima-Institut, sie schränkte ein, dass „ein Teil des Effekts“ durch das raschere Wandern der Gletscher ausgeglichen würde (Nature Climate Change 5, S. 348).

Alles bestens also? Die Teufel liegen in den Details, und die sind in der Antarktis nicht schmal: „Der größte Teil der Küste ist noch nicht einmal kartiert“, bedauert Robert DeConto (Amherst), der Daten auswertet, die 2015 durch glückliche Winde zugänglich wurden: Die hatten das Schelfeis im Osten der Antarktis geöffnet, ein Forschungsschiff konnte dorthin dringen, wo der größte Gletscher des Kontinents ins Meer fließt, der Totten. Seine Zunge schwindet, offenbar durch warmes Tiefenwasser (Nature, 544, S. 152).

Eine andere Expedition ist seit April auf dem Weg in die Ross Sea im Süden, da breitet sich das Eis extrem rasch aus, das will man ergründen (Science 356, S. 234). Und ganz im Westen zieht einmal mehr das Larsen-Schelf alle Augen auf sich: 1995 und 2002 brachen riesige Felder ab, seit 2015 tut sich ein neuer Riss auf, derzeit ist er 180 Kilometer lang. Irgendwann driftet ein gigantischer Eisberg los – und schmilzt. Die Meere wird das nicht heben, dieses Eis kommt nicht vom Land.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 21.05.2017)

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