Medizin: Wie Tierversuche täuschen können

Medizin Tierversuche taeuschen koennen
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Über 95 Prozent aller Versuchstiere sind Ratten und Mäuse. Medikamententests leiden nicht nur daran, dass die Tiere oft verfettet und meist Männchen sind. Auch die Publikationspraxis gibt ein schiefes Bild.

Wirft die ganze pharmazeutische Forschung an Versuchstieren nur Medikamente für übergewichtige Männer ab und vielleicht nicht einmal die? Über 95 Prozent aller Versuchstiere sind Ratten und Mäuse, und fast 100 Prozent von ihnen sind Männchen, sie sind einfacher – und billiger – zu handhaben, Mäuseweibchen haben alle vier Tage einen Eisprung, dessen hormonelle Einflüsse müssen mitkalkuliert werden. Aber Männer und Frauen sind nicht gleich, auch nicht in ihrer Anfälligkeit für Krankheiten und in ihrem Ansprechen auf Medizin.

„Wir werden eigene Medikamente bekommen, andere, weil wir anders sind“, erklärt Deborah Clegg (Dallas), und Rae Silver (Columbia University) kann die Folgen der Differenz auch beziffern: Von zehn Medikamenten, die 1997 bis 2000 wegen Gesundheitsgefährdung vom US-Markt genommen werden mussten, brachten acht noch höhere Risiken für Frauen. Deshalb haben Silver und Clegg einen Workshop in San Francisco organisiert, der das Ungleichgewicht der Geschlechter in den Tierställen der Labors beheben soll (Science, 327, S.1571).

„Ungesunder Ausgangszustand“

Aber mit dem Geschlecht ist es nicht getan, es geht auch um die Lebensbedingungen: Mäuse und Ratten bekommen dauernd Futter, aber nie Bewegung. „Sie sind fett und auf dem Weg zu einem vorzeitigen Tod“, erklärt Mark Mattson (National Institute on Aging), „das kann die Interpretation der Daten und ihre Relevanz für Studien an Menschen beeinträchtigen“, vor allem wenn es um Immunsystem, Krebs und neurologische Leiden geht (Pnas, 3. 2.). Auch der sensationellste aller Befunde kommt in Zweifel: Wenn man Labormäuse auf schmale Kost setzt, leben sie 30 Prozent länger. Das interpretiert man als Segen des Hungerns, Mattson sieht es umgekehrt: „Der Hauptgrund liegt darin, dass diese Tiere von einem sehr ungesunden Ausgangszustand kommen.“

Aber auch mit gesünderen Tieren ist noch gar nichts gewonnen, wenn die Experimente bzw. ihre Befunde selektiv publiziert werden: Jedes sechste kommt nie an die Öffentlichkeit, das schließt Malcolm Macleod (Edinburgh) aus 1325 publizierten Hirnschlagstudien an Ratten und Mäusen. Er vermutet (mit gutem Grund), dass die verschwiegenen Ergebnisse negativ waren, und berechnet, dass durch das Verschweigen der negativen Befunde die positiven überbewertet werden, um 30 Prozent.

Versucht man dann, die Tierbefunde in klinischen Tests auf Menschen zu übertragen, kommt endgültige Ernüchterung – Macleod rechnet es wieder am Hirnschlag durch: In Tierversuchen zeigten sich 500 „neuroprotektive“ Behandlungsstrategien, am Menschen bewährten sich davon zwei, Aspirin und Alteplase (PLoS Biology, 29.3.).

Die mangelnde Übersetzbarkeit hat viele Gründe. Sie beginnen beim Testdesign – Versuchstiere erhalten die gegen Hirnschlag getesteten Substanzen zehn Minuten nach dem Schlag, so rasch können Menschen nie versorgt werden –, sie ziehen sich über die Frage, ob viele Krankheiten des Menschen überhaupt an Mäusen/Ratten simuliert werden können, das gilt etwa für Parkinson und ALS. Und sie gipfeln im Zweifel, ob die so weit von uns entfernten Tiere für irgendeines unserer Leiden aussagekräftig sind.

Macleod setzt trotz allem darauf, andere winken ab: „Was man in Medikamententests wirklich will, ist ein Tiermodell, das menschliche Reaktionen vorhersagen kann“, erklärt Ray Greek – Präsident einer tierversuchskritischen US-Ärzteorganisation –, „und das verletzt schlicht die Gesetze der Evolutionsbiologie. (Naturenews, 30.3.)“

("Die Presse", Print-Ausgabe, 06.04.2010)

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