Archäologie: Ötzi starb nicht am Berg

Archäologie: Ötzi starb nicht am Berg
Archäologie: Ötzi starb nicht am Berg(c) EPA (Archäologisches Museum Südtirol)
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„Der Eismann wurde auf niederer Seehöhe in einem Streit getötet, die Leiche eingelagert ... Monate später wurde sie auf den Pass gebracht und dort bestattet“, sagt Wissenschafter Alessandro Vanzetti.

Als im September 1991 am Tisenjoch nahe dem Hauslabjoch in den Ötztaler Alpen ein mumifizierter Mann aus dem Eis kam, war die Sensation größer als die Sorgfalt, viele Touristen waren am Fundort, Forscher auch, aber die versäumten zunächst die räumliche Dokumentation der Fundstücke, sie musste nachträglich aus Fotos erarbeitet werden. Auch im Labor war der Blick getrübt, Röntgenologen in Innsbruck übersahen eine Pfeilspitze in der linken Schulter, sie waren umso großzügiger beim Ausschmücken der letzten Stunden von Leben und Tod des Eismanns vor über 5000 Jahren: Ein Hirte sei er gewesen, der im Tal in gewaltsame Auseinandersetzungen geraten, auf den Berg geflüchtet und dort gestorben sei.

Tod im Frühjahr im Tal

Bei dieser „Desaster-Theorie“ blieb man, als im Jahr 2007 die Pfeilspitze bemerkt wurde, nun sah man auch andere Verletzungen: Eine Hand war halb zerschnitten, vielleicht bei der Abwehr eines Messers, zudem hatte Ötzi einen Schlag auf den Kopf bekommen, oder er war nach der Pfeilverletzung gestürzt. Aber wo hat sich all das zugetragen? „Sicher nicht dort, wo man ihn gefunden hat“, berichtet Alessandro Vanzetti (Uni Rom), der mit Kollegen den Fundort fünf Jahre lang analysierte, der „Presse“: „Der Eismann wurde auf niederer Seehöhe in einem Streit getötet, die Leiche wurde eingelagert, sie mumifizierte; Monate später wurde sie auf den Pass gebracht, dort bestattet und mit Grabbeigaben versehen.“

Das könnte etwa erklären, warum manche von Ötzis Waffen nicht gebrauchsfähig waren, sein Bogen und zwölf der 14 Pfeile waren nur halb fertig. Das könnte auch erklären, warum man überhaupt so viele Dinge bei der Mumie gefunden hat – wertvolle Dinge, ein Sieger im Kampf hätte sie wohl mitgenommen –, und warum nicht mehr der ganze Pfeil in seiner Schulter war, sondern nur die Spitze. Und das könnte zu den merkwürdigen Pollen in Ötzi und um ihn herum passen: Analysen seines letzten Mahls haben gezeigt, dass er es vermutlich im April zu sich genommen hat, aber die Pollen an der Fundstätte deuten auf August/September. Da war der Schnee weg, da konnte man hinauf, im April nicht.

Trocknete Ötzi in einem kühlen Raum?

Das gibt das Szenario, dass Ötzi im April irgendwo im Tal starb, nicht bestattet werden konnte und vorläufig in einen kühlen Raum kam – so hielt man es in Tirol vom 16. bis ins 20. Jahrhundert –, dort mumifizierte er. Man sieht es ihm an, er trocknete an der Luft aus, war nicht im Schnee begraben. Als der in den Bergen getaut war, brachten sie ihn hinauf, betteten ihn auf eine Steinplattform bzw. eine Grasmatte – das ist das, was man bisher als Umhang deutete – und statteten ihn reich aus, er muss angesehen gewesen sein. Dann kam Schnee, dann taute es, wieder und wieder, er und seine Gegenstände wurden verfrachtet, er um fünf Meter, kleinere Dinge weiter, nur sein Rucksack blieb auf dem Stein.

Warum an so ein Szenario bisher nicht gedacht wurde, erklärt Vanzetti mit der „Pompeji-Prämisse“: Archäologen erliegen leicht der Versuchung, Funde für exakte Konservierungen zu halten (Antiquity, 26. 8.).

("Die Presse", Print-Ausgabe, 26. August 2010)

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