Liebe in Zeiten der Briefe

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Historikerinnen aus Wien und Salzburg durchforsten Archive nach Liebesbriefen des 19. und 20. Jahrhunderts: Die Schreiben bilden die Gesellschaft, Normen und die Sprache der Epochen auf faszinierende Weise ab.

Ich habe einen Briefwechsel in Erinnerung, in dem der Mann den Liebesbrief mit ,Heil Hitler‘ unterschreibt und sich versichert, ob die Frau ihm ein Kind für Großdeutschland schenken wird“, erzählt Ingrid Bauer vom Fachbereich Geschichte der Uni Salzburg. Gemeinsam mit der Historikerin Christa Hämmerle von der Uni Wien forscht sie in einem FWF-Projekt über Liebesbriefe des 19. und 20.Jahrhunderts: „Durch die vielen Briefe sehen wir, dass das, was wir als etwas ganz Privates, Intimes empfinden – Beziehung und Liebe –, stark durch Kultur und Gesellschaft beeinflusst ist.“

Der Titel des Projekts spart den Begriff „Liebesbrief“ aus, die Historikerinnen nennen die schriftlichen Belege „Paarkorrespondenzen“. „Das ist ein offener Begriff, der nicht so stark definiert ist wie Liebesbrief“, erklärt Hämmerle. Denn in der Gesellschaft und Literaturwissenschaft ist klar vorgegeben, wie ein solcher auszusehen hat. „Im 19.Jahrhundert definierte der Duden den Liebesbrief als privates Schreiben, in dem jemandem seine Liebe erklärt oder versichert wird“, sagt Bauer. Hundert Jahre später war der Begriff lockerer: Korrespondenz zwischen zwei Menschen, die einander zugetan sind. „Auch ein guter Austausch über Politik und Kultur kann Liebe ausdrücken, ohne dass dieses Wort im Brief vorkommt“, betont Bauer.

Den Zeitraum ab 1870 bis in die 1970er-Jahre wählten die Forscherinnen (mit im Team die jungen Historikerinnen Barbara Asen, Ines Rebhan-Glück und Nina Verheyen) bewusst. „Um 1870 war der erste Höhepunkt des bürgerlichen Liebesmodells, während gleichzeitig die bürgerliche Frauenbewegung entsteht“, sagt Bauer. „Und in der ,Post-1968er-Zeit‘ erfährt das romantische Modell starke Kritik. Das Erotische und Sexuelle überdeckt den Begriff ,Liebe‘. Und auch die feministische Bewegung stand der Liebe misstrauisch gegenüber, als etwas, wodurch sich Frauen in Abhängigkeit begeben.“

Neben Fallstudien von besonders dichten Paarkorrespondenzen zwischen Männern und Frauen haben die Forscherinnen vor allem den Längsschnitt über diese hundert Jahre im Fokus. Ihre Fragen sind: Wie zeigen sich kulturelle Vorgaben in den Briefen? Wie unterscheiden sich die Korrespondenzen aus dem Bürgertum, bäuerlichem oder Arbeitermilieu? Wie spiegeln sich gesellschaftliche Veränderungen und historische Kontexte im privaten Schreiben wider?

Klar, dass während der beiden Weltkriege das Briefschreiben zwischen unfreiwillig getrennten Paaren an Wichtigkeit gewonnen hat. „Eine Explosion des privaten Schreibens“, nennt Hämmerle etwa die Feldpost der Soldaten, bei der plötzlich auch jene Schichten zur Feder griffen, von denen sonst weit weniger Briefe erhalten sind. „Auch die Frage, wer überhaupt Briefe schreibt, ist spannend“, sagt Hämmerle. In den Archiven fanden sich bisher mehr Briefe aus bürgerlichen Schichten, einige aus bäuerlichem, aber sehr wenige aus dem Arbeitermilieu.

Zur Recherche dient die gut verwaltete Sammlung Frauennachlässe am Institut für Geschichte in Wien, die 1991 von Edith Saurer gegründet wurde. Da man hier aber hauptsächlich Briefe aus Ostösterreich fand, wurden auch Archive in den restlichen Bundesländern durchforstet, inklusive dem jüdischen Museum in Hohenems oder dem Zeitgeschichtemuseum der KZ-Gedenkstätte Ebensee. Bauer: „Ein Liebesbrief der 1950er-Jahre aus Vorarlberg liest sich ganz anders als ein Wiener Liebesbrief aus dieser Zeit.“


Alles anonymisiert.
„Doch wir sind immer noch auf der Suche nach neuem Material“, bittet Hämmerle um Mithilfe. Viele Menschen haben alte Briefe ihrer Eltern, Groß- und Urgroßeltern am Dachboden oder im Keller, die in diesem Projekt wissenschaftlich ausgewertet werden können. „Auch meine Mutter aus Vorarlberg hat ihre Briefe an den Papa hergegeben“, schmunzelt Hämmerle. Das Auswerten überlässt sie in diesem Fall den Kolleginnen: „Aber es wird ohnehin alles anonymisiert gehandhabt.“ Die transkribierten Briefe werden auch mit einer Textanalyse-Software ausgewertet.

Kategorien wie Konflikte und Autorität werden analysiert, aber auch „Paarsprachen“, die sich zwischen den Briefschreibern entwickeln, Kosenamen oder Besitzmetaphern. „Bis du mir gehörst“, ist ein Satz, den die Forscherinnen immer wieder lesen, wenn sie Briefe von Männern an ihre Braut in Händen halten. „In vielen Briefen ist das Autoritätsverhältnis zwischen Mann und Frau so klar, dass einem aus heutiger Sicht schaudert“, sagt Hämmerle. Die Zeit vor der Ehe wird verwendet, um Frauen nach dem männlichen Lebensentwurf zu formen (nach dem Motto „Ich muss dich noch erziehen“).

Positiv überrascht hat die Historikerinnen, wie stark auch Frauen in Briefen ihre Vorstellungen eines Ehe- und Beziehungslebens ausdrücken und selbstbewusst Ansprüche stellen. Sei es die Dienstmagd, die dem bürgerlichen Verehrer ein Versprechen abringt, dass seine nächtlichen Trinktouren bis zur Ehe ein Ende nehmen müssten, oder seien es bürgerliche Frauen, die über viele Briefe mit den Männern aushandeln, wer in einer Ehe was leisten soll. „Auch das Ausmaß an außerehelichen Beziehungen hat uns überrascht“, so Bauer. Damit sind Beziehungen vor der Ehe gemeint, aber auch Liebesverhältnisse, die sich z.B. zwischen der Pflegerin einer kranken Ehefrau und deren Mann entwickelten.

Der Alltag des gelebten Lebens war zu allen Zeiten vielfältiger, als die Normen das vorgeben würden. Und auch über Sexualität wurde schon vor den 1960ern erstaunlich offen kommuniziert. „Zum Beispiel in der Feldpost wird das Verlangen nach dem Körper des anderen beschrieben, aber es gibt auch Briefe aus den 1930ern, die fast pornografisch sind“, so Hämmerle. Auch die Reaktionen der Öffentlichkeit, etwa einer Dorfgemeinde, zeigen, welche Erwartungen an Liebe und Beziehung zu jeder Zeit gestellt wurden. Wenn die Frau dem Mann über das Geflüster vor der Kirche schreibt oder der Postbote im Ersten Weltkrieg sie mit den Worten begrüßt: „Heute ist ein Liebesbrief für dich dabei.“ In den Archiven finden sich auch Belege, dass sich Liebespaare gegen ihre Umwelt, die ihnen gesellschaftliche Konventionen auf zwängt, zu wehren versuchen.


Normen. Hingegen hielt man sich beim Briefschreiben an konkrete Normen. „Briefe sind ein stark formalisiertes Genre“, sagt Hämmerle. Es gab stets Briefsteller, Anweisungsbücher mit Musterbriefen, sogar für Brautbriefe und Liebesbriefe (ähnlich der „Hilfe“ bei Textsoftware, die ungefragt auftaucht, sobald man „Lieber Herr“ tippt). „In der Post-68er-Zeit brechen die Formalitäten auf“, sagt Bauer. Auch die früher scharf gestochene Schrift wird zunehmend salopper: „Das ist kein Ausdruck von Distanz, sondern man legte mehr Wert auf persönliche Handschrift und Individualität.“

Doch ab dieser Zeit wurden die Briefe immer weniger: Das Telefonieren ersetzte die schriftliche Korrespondenz. Dafür sehen die Forscherinnen heute ein Aufleben des Liebeskorrespondenzen über E-Mail und Facebook: „Der Umgang damit ist ähnlich wie mit früheren Liebesbriefen.“

("Die Presse", Print-Ausgabe, 28.11.2010)

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