Geschichte: Ort des Saufteufels und der Demokratie

Das Wirtshaus war in der Frühen Neuzeit ein multifunktionaler Raum, eine Nachrichtenbörse.

Das Wirtshaus spielte für die Gesell schaft der Frühen Neuzeit eine zentrale Rolle. Es erfüllte zahlrei che Funktionen, die mittlerweile von anderen Institutionen übernommen wurden. Der Hauptgrund dafür war die damalige große Bedeutung der direkten Kommunikation von Angesicht zu Angesicht, erklärt Martin Scheutz, Historiker an der Universität Wien. Das Wirtshaus war ein zentraler Ort der Geselligkeit: "Hier vermischten sich unterschiedliche soziale Schichten, hier kamen Einheimische und Fremde zusammen."

Vor allem war das Wirtshaus eine Nachrichtenbörse: "Wer etwas wissen wollte, kam hierher." Doch das war noch lange nicht alles: In Holland fanden sich die ersten Tulpenbörsen in Gasthäusern, der Versicherer Lloyd of London wurde in einem Kaffeehaus gegründet, auch politische Parteien entstanden (im 19. Jahrhundert) in der Regel im Wirtshaus. Des weiteren wurde hier Geld gewechselt, es wurde Arbeit vermittelt, gestohlene Waren wechselten den Besitzer, Soldaten wurden nicht nur verpflegt, sondern vor Erfindung der Kasernen auch beherbergt.

Scheutz: "Das Wirtshaus war in der Frühen Neuzeit neben der Kirche und dem Rathaus einer der drei zentralen öffentlichen Räume." Einen Dämpfer erlitt die Bedeutung der Gaststätten zumindest als Ort der Verkündigung von Gesetzen durch Maria Theresia: Die Einführung der Schulpflicht führte dazu, dass immer mehr Menschen lesen konnten und die persönliche Kommunikation weniger wichtig wurde. Einen weiteren Bedeutungsverlust brachte im 20. Jahrhundert das Fernsehen.

Dabei hat sich "das" Wirtshaus, wie wir es kennen, erst langsam entwickelt. "In der Frühen Neuzeit hat es vor allem gewissermaßen ,Spezialanbieter' gegeben: etwa Weinschenken, Bierschenken, sogenannte ,Gaar-Kucheln', in die Reisende Essen mitbrachten, das dann dort für sie gekocht wurde", berichtet Scheutz. Auch regional gab es um 1750 noch "riesige" Unterschiede. "Erst im 19. Jahrhundert entstand in den österreichischen Erbländern der neue, einheitliche Beruf des Gastwirts."

Die zahlreichen großen und kleinen Unterschiede ebneten sich mit der Zeit ein. Dieser Trend zur Einheitlichkeit und Standardisierung zeigt sich auch in der Einführung der Speisekarte im Laufe des 18. Jahrhunderts. "Früher waren die Dinge nicht klar geregelt, deswegen gab es immer wieder Streitereien, etwa um die Zeche. Das war ein Problem", erläutert Scheutz: "Um es zu lösen, wurden immer mehr Regeln eingeführt: Die Gastlichkeit normierte sich und wurde mit der Zeit auf einen Leistungskatalog zurückgeführt."

Das Wirtshaus stand in einem ambivalenten Verhältnis zum Staat, der im Laufe des 18. Jahrhunderts ebenfalls neue Aufgaben und Macht-Ressourcen für sich entdeckte. Zum einen war es ein Regelungsproblem: Schon Luther wetterte gegen den "Saufteufel", der im Wirtshaus verortet und für soziale Unruhe verantwortlich gemacht wurde. Und das, wo für die Obrigkeiten "Ruhe" und "Ordnung" zentrale Leitvorstellungen waren. Das Resultat war eine strikte Regulierung der Gaststätten, etwa durch Sperrstunden, deren Einhaltung von der Polizei genau kontrolliert wurde.

Das Wirtshaus war auch deswegen Ort des (potenziellen) Widerstands, da es Ort der "unkontrollierten Rede" war: Hier wurde über alles Mögliche gesprochen, auch und gerne über Politik. "Die Gaststätten entwickeln sich zu einem Gegenpol zur Regierung des Monarchen", erklärt Scheutz. "Damit stehen sie, wenn man es pointiert formuliert, in einer demokratischen Tradition: hier wird Kritik geäußert, hier wird Meinung gebildet." Die Kombination von Öffentlichkeit und Alkoholkonsum führte dazu, dass das Wirtshaus oft Ausgangspunkt von "Rottierungen" war, von politischen Revolten.

Auf der anderen Seite war das Wirtshaus verlängerter Arm der Obrigkeit, eine Art "Vorzimmer" des (sich entwickelnden) bürokratischen Staates. Zentral war hier die Meldepflicht: Wirte hatten Gäste - nach einem Patent von 1757 "obschon sie auch nur durchreisen möchten, oder über Mittag oder auf eine Nacht verbleiben wollten" - gleich nach ihrer "Einkehr" mittels "Anzeigezettel" zu melden. Eine weitere wichtige Funktion war die bereits erwähnte Verkündigung von Gesetzestexten.

Die Wirte gehörten in der Frühen Neuzeit zur Oberschicht der Gesellschaft. "Um ein Wirtshaus zu eröffnen, war viel Kapital notwendig, das musste man sich leisten können", so Scheutz. Der Einfluss der Wirte war auch der zentralen Rolle ihrer Unternehmen zuzuschreiben. "Wirte waren immer besser informiert als die anderen." Und das wussten sie für ihre persönliche Macht zu nutzen. Die Zusammensetzung der Stadträte war neben den Händlern und Kaufleuten stark von den Wirten geprägt. Scheutz: "Das spiegelt, im Sinne von Max Weber, den Zusammenhang von ökonomischer Potenz und politischer Repräsentation wider."

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