Mathematik: Die Dynamik von Massen

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Eine Wiener Mathematikerin entwickelt ein Modell, das das Verhalten unzähliger Teilchen beschreibt. Anwendung findet es bei Massenpanikoder bei Zellkanälen.

Ob bei der Hadsch, der islamischen Wallfahrt, bei der jedes Jahr Millionen muslimische Pilger nach Mekka strömen, bei großen Musikveranstaltungen wie dem Donauinselfest in Wien oder der Love-Parade in Deutschland – oder bei Fußballspielen: Große Menschenmassen entwickeln eine oftmals schwer einschätzbare Eigendynamik, vor allem dann, wenn etwas Unvorhergesehenes passiert wie vor einem Jahr in Duisburg. Beim Gedränge im Eingangsbereich der Love-Parade wurden mehr als 500Personen verletzt, 21 Menschen starben. Eine derartige Massenpanik und tragische Unfälle sind trotz lang geplanter Sicherheitsvorkehrungen oftmals das Ende von Veranstaltungen, die lustig begannen.

Die Hertha-Firnberg-Stipendiatin Marie-Therese Wolfram versucht in einem dreijährigen FWF-Projekt, die Bewegungsabläufe von Menschenmengen physikalisch und mathematisch zu beschreiben: Auf Basis dieser Forschungen werden Vorhersagemodelle entwickelt, die Massen kontrollierbarer machen sollen. Wolfram arbeitet am Institut für Mathematik der Universität Wien und hat sich im Vorfeld des aktuellen Projektes (das – wie es der Zufall will – im Juli 2010 startete, im selben Monat, als es zur Massenpanik in Duisburg kam) fast zwei Jahre lang an der Universität Cambridge einschlägiges Know-how angeeignet.


Makro versus mikro. Ihr Ausgangspunkt ist die klassische Physik. Die Bewegung von Teilchen kann auf zweierlei Weise beschrieben werden: mikroskopisch und makroskopisch. Beim mikroskopischen Ansatz, dem Partikelmodell, wird die Bewegung jedes einzelnen Teilchens mithilfe der Newton'schen Gesetze ermittelt. Bei 10.000 Teilchen sind das 10.000 Gleichungen – bei einer großen Ansammlung von Teilchen ist dieser Ansatz damit äußerst zeitaufwendig. Daher gehen die Wissenschaftler bei vielen Teilchen zum sogenannten Dichteansatz über, bei dem nicht jedes Teilchen einzeln betrachtet wird, sondern die Gesamtheit der Teilchen als Dichte, die sich im Raum bewegt. Aus 10.000 Einzelgleichungen wird dadurch eine einzige Funktion.

Die Mathematikerin versucht nun, diesen Dichteansatz auf sozioökonomische Fragestellungen zu übertragen. „Ausgehend von Ansätzen der statistischen Physik arbeite ich an der Entwicklung von numerischen Algorithmen“, erklärt Wolfram. Damit sollen sich die Bewegungsabläufe von Menschenansammlungen am Computer simulieren lassen. „Die mathematische Theorie steckt noch in den Kinderschuhen. Wir hoffen aber, in Zukunft mit Soziologen zusammenarbeiten zu können, um das Verhalten von Menschenmassen besser zu verstehen.“


Wer schwimmt gegen den Strom? Die Grundidee ist, dass Menschen innerhalb eines großen Menschenflusses ungefähr dieselben Eigenschaften besitzen. „Das ist natürlich eine starke Vereinfachung der Realität“, ist sich die Nachwuchswissenschaftlerin bewusst. In ihrem Modell wird ein durchschnittlicher Fußgänger als ein Punkt definiert, der sich zufällig bewegt, aber trotzdem einem Ziel folgt. „Man muss sich dabei überlegen, wie die Interaktion zwischen den Menschen ist.“ Eine Gruppe, die sich bewegt, wirkt auf einen Einzelnen anziehend. Er wird sich zunächst in die gleiche Richtung bewegen und schauen, warum die Menschen in diese Richtung strömen. „Denken Sie nur an die Bewegung auf einem Gehsteig“, nennt Wolfram ein Beispiel. „Es ist viel leichter, mit der Menge zu gehen, als gegen den sprichwörtlichen Strom zu schwimmen.“ Ist die Dichte an Menschen jedoch sehr hoch, wirkt dies abstoßend, man wird diese Masse meiden und einen großen Bogen um sie machen. Außerdem werden enge Räume gemieden.

Lässt man nun die Anzahl der Punkte gegen unendlich gehen, ist das Ergebnis eine Gleichung, die die Bewegung der Menschenmenge beschreibt – ein sogenanntes Dichtemodell, wie wir es oben kurz dargestellt haben.

Diese in der Fachsprache genannten „Crowd-motion“-Modelle sollen helfen, die Umgebung von Menschenmassen sicherer zu machen. Eine Fragestellung ist zum Beispiel, wie breit macht man Türen oder wo platziert man sie im Raum, um auch bei Panik Unfälle zu vermeiden.

Im Rahmen des Projektes wendet Wolfram jedoch diese Modelle auch auf völlig andere Forschungsbereiche an – etwa die Teilchendiffusion in biologischen Systemen. Mithilfe des Dichteansatzes simuliert die Forscherin hochkomplizierte biophysikalische Bewegungsabläufe innerhalb von Ionenkanälen, die die Kommunikation zwischen Zellen ermöglichen. „Diese Kanäle, die sich in jeder Zellmembran des Körpers befinden und den Stoffaustausch regulieren, sind besonders interessant, weil sie nur bestimmte Ionen durchlassen, also sehr selektiv sind“, so Wolfram. Zwar gibt es bereits Modelle, die diesen Vorgang sehr detailliert darstellen – das oben erwähnte Partikelmodell –, deren Berechnung ist aber in vielen Fällen sehr aufwendig und teuer.

Das Ziel der Forscherin ist es, den Ablauf auf die wesentlichen Vorgänge zu reduzieren, um einfache Simulationen zu ermöglichen. Auch hier spielen wieder Abstoßungsmechanismen, ähnlich der Aversion gegen Ballungen von Fußgängern, eine bedeutende Rolle. „Mathematisch gesehen ist der Übergang vom Partikelmodell zum Dichteansatz – also vom exakten Modell zu einer Wahrscheinlichkeitsverteilung – entscheidend.“

Eine Anwendung liegt auf der Hand: Ist der Ionenaustausch in der Zellmembran eines Menschen gestört, hat das oftmals schwerwiegende Folgen wie Herzrhythmusstörungen. Wolfram arbeitet unter anderem mit der Gesellschaft für Schwerionenforschung in Darmstadt zusammen. Die dort künstlich hergestellten Kanäle sollen helfen, das Verhalten ihrer biologischen Pendants besser zu durchschauen. Außerdem werden sie im aufstrebenden Bereich der Nanotechnologie, zum Beispiel als Sensoren für bestimmte Moleküle, eingesetzt.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 05.06.2011)

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