Roland Benedikter: »Europa ist ein halb sozialistisches Gebilde«

(c) EPA (Robert Ghement)
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Er denkt in sechs Dimensionen, ist glühender Fan der amerikanischen Wirtschaftsordnung und begeisterter Science-Fiction-Leser: Zukunftsforscher Roland Benedikter hat in Stanford seine intellektuelle Heimat gefunden.

Herr Benedikter, als Befürworter einer Kolonisation des Weltraums müssten Sie froh darüber sein, dass sich Newt Gingrich um das Amt des US-Präsidenten bemüht. Schließlich will er im Falle seines Wahlsiegs eine Basis auf dem Mond errichten.

Roland Benedikter: Das ist doch reiner Schein. Gingrich ist der korrupteste Politiker, den die USA je hatten. Diese Geschichte brachte er nur ins Spiel, weil er weiß, dass man damit in Kalifornien und im Silicon Valley Pluspunkte sammeln kann.

Ihre Wahlheimat Kalifornien gilt einerseits als Zukunftslabor par excellence und andererseits als Versuchsanordnung für die Dysfunktionalität der US-Politik. In der kalifornischen Schuldenfrage geht seit Jahren nichts weiter. Können Sie diesen Spagat erklären?

In Kalifornien geht man anders mit Veränderungen um. Gibt es eine Entscheidung, wird sie rasch und umfassend umgesetzt. Man zieht einen Schlussstrich und beginnt von vorn. Dass trotz hoher Budgetdefizite niemand höhere Steuern will, ist verständlich, denn Kalifornien hat mit 9,1 Prozent die höchste Mehrwertsteuer der USA. Das Problem der Dysfunktionalität hat eher Europa.


Wie beurteilen Sie die europäischen Reformbemühungen?

Man will die Krise lösen, indem man die Steuern erhöht und die Wirtschaft reguliert. Das ist der falsche Weg. Es gibt aber auch eine ernst gemeinte Reformbereitschaft, etwa in Italien, wo sich Mario Monti mit den Berufsverbänden anlegt – zu Recht, denn was hier fehlt, sind Meritokratie und Begabtenförderung. Europa ist ein halb sozialistisches Gebilde, in Italien beträgt die durchschnittliche Steuerbelastung mittlerweile 50 Prozent. Wozu soll man sich da noch anstrengen? Da finde ich Kalifornien viel besser.


Aber trifft diese Kategorisierung in ein individualistisches Amerika und ein gelähmtes Europa noch zu? Schließlich sprechen sich in den USA sogar die Vertreter der Tea Party gegen Kürzungen im Sozialbereich aus.

Die Tea Party ist die Verkörperung aller Widersprüche im politischen System der USA. Es ist eine Basisbewegung, die aus ungebildeten Proletariern besteht und von den Superreichen finanziert wird. Ihre Vertreter haben zu Recht das Gefühl, dass der amerikanische Traum vom sozialen Aufstieg aus eigener Kraft nicht mehr gilt. Wer sich ein Haus kauft, wird zum lebenslangen Sklaven der Banken. Die Colleges sind nicht mehr zu bezahlen, der durchschnittliche kalifornische Doktorand ist mit 60.000 Dollar verschuldet, was ein Witz ist. Aber die Tea Party glaubt an einen falsch verstandenen Liberalismus: Man müsse nur die Zustände des 19. Jahrhunderts wiederherstellen, und alles wird wieder gut.


Sie halten offenbar wenig von dem rechten Lager in den USA.

Die Republikaner haben heute die schwächsten Präsidentschaftskandidaten in der Geschichte der „Grand Old Party“. Die Protagonisten der Tea Party haben dafür gesorgt, dass kein denkender Kandidat eine Chance hat. Die Präsidentenwahl ist damit schon gelaufen.


Glauben Sie im Ernst, dass Barack Obama der Sieg nicht mehr zu nehmen ist?

Ja, denn ein erheblicher Teil der Republikaner wird aus Protest gegen diese schwachen Kandidaten nicht wählen gehen. Dass einzige, was Obama gefährlich werden könnte, ist, dass die Demokraten zu siegessicher sind und am 6. November ebenfalls daheimbleiben. Sollte Obama wider Erwarten verlieren, befürchte ich eine Zäsur mit schwerwiegenden Folgen.


Sind Sie da nicht allzu pessimistisch? Schließlich haben Sie vorhin gerade noch die Selbstheilungskräfte der amerikanischen Gesellschaft beschworen...

Das amerikanische Gesellschaftssystem ist und bleibt das produktivste der Welt. Trotzdem: Wenn sich bei dieser Wahl das oberste Prozent der Gesellschaft durchsetzt, dann werden wir, überspitzt formuliert, in Amerika einen Bürgerkrieg haben. Ich bin mir aber sicher, dass die USA auch eine Abwahl Obamas überstehen werden, keine Frage. Ich glaube an die Selbstheilungskräfte der Demokratie, obwohl sie durch den Aufstieg Asiens verstärkt infrage gestellt werden.


Ist das asiatische Wachstumsmodell Ihrer Einschätzung nach zukunftsträchtig?

Nein. Solange China nicht demokratisch ist, wird es die kritische Masse der Kreativität niemals erreichen. In den USA leben 300 Millionen Menschen, die das tun dürfen, wonach ihnen der Sinn steht. China hat 1,3 Milliarden Einwohner, aber nur 40, 50 Millionen dürfen kreativ sein. Der Rest wird vom Regime ruhiggestellt.


In Stanford versuchen Sie, den globalen Wandel anhand von sechs Kategorien – Politik, Wirtschaft, Kultur, Religion, Technologie und Demografie – zu erfassen. Ist das Denken in vielen Dimensionen heute noch möglich? Schließlich ist die Ära der Renaissancemenschen schon lange vorbei.

Guter Einwand. Wie soll ich alles verstehen können, da ich doch nicht einmal imstande bin, meinen eigenen Fernseher zu reparieren? In der Praxis brauchen Sie eine kritische Masse von Wissenschaftlern – auf der einen Seite Spezialisten und Praktiker, auf der anderen Seite Generalisten. Und die sind die wichtigeren Akteure. Heutzutage werden öffentliche Intellektuelle benötigt: Einzelpersonen, die in der Lage sind, eine inhaltliche Synthese herzustellen. In Europa wird diese Rolle total unterbewertet.


Warum gelingt diese öffentlichkeitswirksame Synthese im angelsächsischen Raum besser als hierzulande?

Weil man in Europa immer noch zu sehr auf Spezialisten setzt. Man glaubt, wenn 50 Experten zusammenarbeiten, dann kommt was Tolles dabei heraus. Das hat nie funktioniert und wird nie funktionieren. Sie haben dann 50 Superspezialisten in einem Raum, aber sie ergeben kein größeres Ganzes. Ein weiterer Unterschied ist, dass in Europa zwischen Theorie und Praxis unterschieden wird. Ein Politologe in Österreich zu sein, bedeutet, auf gar keinen Fall politisch aktiv sein zu dürfen.


Um sich ja nicht die Hände schmutzig zu machen.

Nach dieser Auffassung bedeutet Politologie: Die Politiker sind Verbrecher, und ich muss Abstand zu ihnen halten. In den USA ist es genau umgekehrt: Wenn du es nicht in der Praxis ausprobiert hast, kannst du kein guter Politikwissenschaftler sein. Man darf nicht im Elfenbeinturm sitzen. Einen europäischen Universitätsprofessor, der seinen Vortrag vom Blatt abliest, würde man in Amerika auslachen. Dort redet der Professor frei und fasziniert seine Zuhörer. Sonst ist er kein guter Professor.


Was interessiert Sie eigentlich an der Science-Fiction?

Die Wechselwirkung zwischen Fiktion und technologischem Fortschritt. Da haben sich Autoren in ihren Biedermeierstuben geniale Zukunftsentwürfe einfallen lassen und damit Wissenschaftler inspiriert. Und die daraus hervorgegangenen technischen Errungenschaften sind wiederum die Basis für neue Erzählungen und Mythen...


...etwa Versuche mit Quantenteleportation, die auch durch die Fernsehserie „Star Trek“ angeregt wurden.

Ganz genau, das finde ich sehr faszinierend. Und deswegen lasse ich mir von meiner Frau meine Vorliebe für Science-Fiction-Filme nicht nehmen. Sie schaut lieber romantische Komödien und bevorzugt die schwere Literatur des 19. Jahrhunderts. Ich wiederum kann diese Beengung der damaligen Ära nur schwer aushalten.


Dann muss es Ihnen schlecht gehen mit der österreichischen Kultur, für die das 19. Jahrhundert eine prägende Ära war und die das Thema der Beengtheit oft aufgreift.

Da bin ich im Zwiespalt. Einerseits schätze ich dieses seltsame Konstrukt der Donaumonarchie: ein multidisziplinärer Fleckerlteppich, der trotzdem eine globale Komponente hatte. Und auf der anderen Seite gibt es zum Beispiel in der österreichischen Literatur diesen Hang dazu, die Schmerzen bis ins letzte Detail zu zelebrieren.


Was wohl eine Art ist, mit der von Ihnen beschriebenen Enge fertig zu werden.

Aus psychologischer Perspektive betrachtet, ist mein ganzes Interesse an der Interdisziplinarität nichts anderes als ein Versuch, die Angst zu bewältigen. Wenn Sie in einem dunklen Raum allein sind und unheimliche Geräusche hören, versuchen Sie, möglichst viele Elemente zu isolieren, um sie zu verstehen und sich wohlzufühlen. Genau darum geht es.

1965
Geboren in Südtirol

1984–1992
Studium der komparatistischen Kultur-, Sprach- und Literaturwissenschaft in Innsbruck und Padua

1993–1996
Beteiligt am Aufbau der Europäischen Akademie für angewandte wissenschaftliche Forschung in Bozen

1995–2003
Ausflug in die Politik: Benedikter ist „Persönlicher Referent“ des Ministers für Kultur, Wissenschaft und Bildung der deutschsprachigen und ladinischsprachigen Minderheiten der Europaregion Trentino-Südtirol.

Seit 2009
Europäischer Stiftungsprofessor für Soziologie an der University of California und Visiting Fellow in Stanford

Das Interview fand am Rande der von Gaisberg Consulting organisierten Diskussion „Frühstück mit Ausblick“ statt. „Die Presse“ ist Partner der Veranstaltungsreihe.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 05.02.2012)

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