Mathematik: Das Unberechenbare berechnen

Unberechenbare berechnen kann
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Wer glaubt, dass Mathematik eine abgeschlossene Wissenschaft ist, der ist auf dem Holzweg. Sowohl in der Grundlagenforschung als auch in der angewandten Mathematik gibt es noch unzählige ungelöste Probleme.

Wie kann man Diabetes-Patienten davor bewahren, einen Zuckerschock zu erleiden, ohne ständig den Blutzuckerspiegel messen zu müssen? Wie kann man das Flimmern der Atmosphäre aus Teleskopbildern entfernen, um die Sterne wirklich scharf zu sehen? Wie kann man vorhersagen, ob eine Schutzschicht vor der Roheisenschmelze noch ausreichend dick ist, ohne in den Hochofen hineinschauen zu müssen (was nicht geht)? Und wie kann man aus Computertomografiebildern Bewegungen, etwa durch das Atmen, herausfiltern, damit ein Arzt eine Operation exakt planen kann?
Diese vier Probleme stammen aus völlig unterschiedlichen Gebieten. Sie haben aber dennoch eines gemeinsam: Sie sind ohne aufwendige mathematische Methoden nicht lösbar. Und diese gab es – da staunt der Laie – bis vor Kurzem noch nicht. Entwickelt wurden die neuen Verfahren von Mathematikern in Linz. Dort existiert seit Langem das Institut für Industriemathematik. Im Jahr 1996 gründete der damalige Leiter Heinz Engl (derzeit Rektor der Uni Wien) das Unternehmen „Math Consult“. Und 2003 kam noch das „Johann Radon Institute for Computational and Applied Mathematics“ (Ricam) dazu – eine Einrichtung der Akademie der Wissenschaften (ÖAW).

Dieses Dreigestirn, das seit einigen Monaten auch in einem gemeinsamen Gebäude auf dem Linzer Uni-Campus sitzt, hat genug Manpower, um sich an wirklich schwere Probleme heranzuwagen – und sie auch zu knacken. Wobei Grundlagenforschung und angewandte Forschung kein Gegensatz sind. Im Gegenteil: „Anwendung von Forschung ist, wie wenn man einen Schwamm auspresst. Der Schwamm muss aber wieder aufgefüllt werden – und zwar durch Grundlagenforschung“, sagt Ulrich Langer, Mathematikprofessor an der Uni Linz und Leiter des Ricam. Zwischen Grundlagenforschung und Anwendung gibt es ein Wechselspiel. „Wir beziehen die Motivation für die Forschung aus anderen Wissenschaftsfeldern und der Industrie.“ Und viele der Ergebnisse „schreien“, so Langer, nach einer praktischen Anwendung – wofür das Ricam eine eigene Transfergruppe eingerichtet hat, die mittlerweile vier Patente hält.

Seinen Namen hat das Ricam von Johann Radon, einem österreichischen Mathematiker, der 1917 eine Methode – die „Radon-Transformation“ – veröffentlicht hat, ohne die ganze Bereiche der Technik undenkbar wäre: nämlich all jene, bei denen es um „inverse Probleme“ geht. Das bedeutet, dass man anhand von Auswirkungen eines Phänomens auf dessen Ursache schließen will. Ein Beispiel ist die Computertomografie, bei der aus Röntgenbildern die dreidimensionalen Strukturen im Körperinneren rekonstruiert werden. „Radon hatte nie eine Anwendung im Blick, er betrieb reine Grundlagenforschung“, erläutert Langer.

Wie sehr sich Grundlagenforschung und Anwendung gegenseitig befruchten, zeigt sich etwa bei „numerischen“ Lösungsverfahren – in der Fachsprache „computational mathematics“ genannt. „Fast alles, was uns umgibt, kann mit partiellen Differenzialgleichungen beschrieben werden“, erläutert der Grazer Mathematikprofessor und stellvertretende Ricam-Leiter Karl Kunisch. Als Differenzialgleichungen bezeichnet man mathematische Gleichungen, in denen gleichzeitig eine Größe und deren Änderung vorkommen. Das ist bei vielen Naturgesetzen der Fall, etwa bei den Newtonschen Bewegungsgleichungen, in der Quantenmechanik, in der Elektrotechnik, bei biologischen und ökonomischen Wachstumsvorgängen etc.

Mit Differenzialgleichungen kann man also viele Vorgänge mathematisch beschreiben („modellieren“). Die Sache hat aber einen Haken: Viele Differenzialgleichungen lassen sich nicht vollständig lösen. Es gibt allerdings Verfahren, mit denen man sie näherungsweise lösen kann: „numerische“ Methoden, bei denen man vereinfacht gesagt Zahlen in die Gleichungen einsetzt und für bestimmte Bedingungen eine Lösung bekommt.

Diskretisierung. Der erste Schritt ist eine Analyse der Gleichungen: Gibt es überhaupt eine Lösung? Welche Eigenschaften hat diese? Bilden sich Schwingungen? Oder artet sie in Chaos aus? Danach folgt eine „Dikretisierung“. Langer: „Eine Formel lebt im Kontinuum, der Rechner kann aber nur endlich viele Punkte darstellen.“ Was dabei wesentlich ist: Da es sich immer um Näherungsmethoden handelt, ist eine Abschätzung der Fehler essenziell. Das Ergebnis ist ein System linearer Gleichungen mit Millionen oder sogar Milliarden Dimensionen bzw. Variablen. Diese sind zwar grundsätzlich lösbar – etwa auf dem neuen Supercomputer „Mach“ (siehe Artikel rechts) –, aber das kann sehr rechenaufwendig sein. „Es gibt viele Probleme, die heute numerisch nicht in halbwegs überschaubarer Zeit lösbar sind“, so Kunisch. Daher sind neue Berechnungsmethoden notwendig – deren Entwicklung, wie alle Mathematiker einhellig betonen, ein sehr kreativer Prozess ist. „Die Kreativität besteht darin, neue Techniken für die Lösung von Problemen zu finden, die bisher als unlösbar galten“, sagt Langer. Diese Lösungen bilden auch die Basis für weitere Aufgaben, etwa Optimierungen.

Ein gutes Beispiel, was neue Lösungsverfahren bringen können, ist ein Projekt, das die Linzer Forscher im Auftrag der Europäischen Südsternwarte (ESO) durchführen: Dort sollen die Fluktuationen in der Atmosphäre durch ein ständiges leichtes Verstellen der Spiegel durch „Aktuatoren“ kompensiert werden – und zwar bis zu 3000-mal in der Sekunde. Als „Maßstab“ dafür dient entweder ein heller Stern oder ein sogenannter „künstlicher Leitstern“ – ein starker Laserstrahl, der in den Himmel geschickt wird. Beim derzeit größten ESO-Teleskop in Chile, dem VLT mit einem Spiegeldurchmesser von 8,2 Metern, sind zur Steuerung der Aktuatoren rund 100 Rechnerknoten (CPUs) notwendig. Für das geplante E-ELT mit fast 40 Meter Spiegeldurchmesser wurde in Linz ein schneller Algorithmus entwickelt, für den ein einziger CPU ausreicht – obwohl rund 5000 Aktuatoren im Millisekundentakt gesteuert werden müssen.

Dieses mit 2,25 Millionen Euro dotierte ESO-Projekt ist nicht nur als Anwendung interessant. Auch die Grundlagenforschung – sowohl am Uni-Institut als auch am Ricam – würde davon profitieren, betont Math-Consult-Geschäftsführer Andreas Binder. „Grundlagenforschung fließt in die Anwendung und wieder zurück.“

Derzeit sind die Linzer Mathematiker dabei, ein völlig neues Forschungsfeld zu eröffnen. „Auch die Life Sciences, vor allem die Systembiologie, braucht Mathematik“, erläutert Langer. Und zwar nicht nur in Form von statistischen Methoden („Bioinformatik“), durch die man Gesetzmäßigkeiten in der unermesslichen Datenfülle erkennen will. Vielmehr gebe es auch in der Biologie ein „inverses Problem“: beim Schließen von Gensequenzen auf die phänotypischen Eigenschaften von Lebewesen und umgekehrt. Erst vor drei Wochen fand ein erster Workshop mit den biologischen ÖAW-Schwesterinstituten CeMM, IMBA und GMI in Wien statt. Kunisch: „Die Life Sciences sind derzeit in derselben Situation wie die Mechanik in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Hier hat die Mathematik großes Potenzial.“

("Die Presse", Print-Ausgabe, 11.03.2012)

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