Vom Punkleben auf der Straße

Karina Fernandez analysierte den Verlauf der Straßenkarrieren einer Gruppe von Jugendlichen in Graz: Die meisten sind schleichend hineingerutscht.

Was treibt junge Menschen dazu, alle Brücken hinter sich abzubrechen und auf der Straße zu leben? Die Punkszene entwirft sich als Alternative zur „Gesellschaft“, hat also eine politische Motivation. Eine ähnliche jugendkulturelle Orientierung fehle Nichtpunks völlig, fand Karina Fernandez, die untersuchte, was den Ein- und Ausstieg in die Straßenszene beeinflusst (Uni Graz, Betreuer: Peter Gasser-Steiner). „Die Jugendlichen, die ich in Graz begleitet habe, kleiden sich nicht auffällig“, berichtet die Soziologin, „und hätten am liebsten Familie, Haus und Arbeit. Nur klappt das irgendwie nicht.“

Fernandez entwickelte ein Phasenmodell für den Verlauf von Straßenkarrieren: Das „Hineinrutschen“ geschehe meist schleichend. „Sie kennen einander bereits, verbringen immer mehr Zeit in der Gruppe.“ Die Szene wird hier noch als hoch attraktiv beschrieben. Denn fast alle stammten aus gesellschaftlich marginalisierten Schichten, oft schwierigen, armen Familien; in der Gruppe erfahren sie Anerkennung und Zusammenhalt.

In der Phase der Verfestigung passen sie sich der Gruppe an: mit „Fremdschlafen“, also Nicht-mehr-daheim-Übernachten, ebenso wie gesellschaftlich nicht anerkanntem Verhalten (Stehlen, Aggression). „Irgendwann beginnen sie aber, Irritationen zu spüren“, erfuhr Fernandez. „Oft haben sie Schulden wegen Ordnungsstrafen und beginnen, unter den ständigen Wegweisungen zu leiden.“ Fast alle versuchen wiederholt auszusteigen. Am einfachsten gelinge das jenen, die noch nicht lang dabei sind. Andere schaffen es nicht, bis sie 30 sind oder in eine andere Szene wechseln.

Was macht den Ausstieg schwer? „Oft wurden alle anderen Kontakte abgebrochen. Und ohne Ausbildung und mit Vorstrafen findet sich schwer Arbeit.“ Wobei Fernandez betont, dass es für Jugendliche sehr gute Streetworking-Angebote gebe – doch genau das sei die Phase der geringsten Ausstiegsmotivation. „Für junge Erwachsene fehlt dann ein vergleichbares Angebot, diese Menschen nicht abzuschreiben.“

Nachtrag: Die untersuchte innerstädtische Szene gibt es in dieser Form nicht mehr. „Wie überall in Europa haben auch in Graz Ordnungs- und sicherheitspolitische Maßnahmen diese Menschen aus dem öffentlichen Raum verdrängt, zurück in ihre Stadtteile und Wohnungen.“ Ein Vorgehen, das zu überdenken sei: Denn nur, weil es nicht mehr zu sehen ist, ist das Problem nicht aus der Welt.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 05.01.2014)

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