Lernen, wie Europa funktioniert

Porträt. Elisabeth Görsdorf-Léchevin untersuchte am Beispiel einer französischen Sommeruniversität, wie sich demokratische Prozesse vermitteln lassen.

„Europabezogenes Lernen“: Das klingt trocken und fad. Doch Elisabeth Görsdorf-Léchevin zeigt in ihrer Dissertation (Uni Graz, Erziehungs- und Bildungswissenschaft, Betreuer: Werner Lenz), wie lebensnah der Begriff ist. Am Beispiel einer Sommeruniversität in Frankreich in Cluny, Burgund, beweist sie, dass junge Menschen mit- und voneinander lernen können, wie Gesetze in der Europäischen Union entstehen und wie Demokratie funktioniert.

„Es bringt nicht viel, wenn Schüler in politischer Bildung Jahreszahlen und Institutionen auswendig lernen“, sagt Görsdorf-Léchevin. Viel mehr lernt man an Beispielen, die einen betreffen, etwa Roaminggebühren und Straßenmaut. „Lehrer sollten darauf trainiert werden, die Relevanz und Konsequenzen von EU-Regelungen lebensnah weiterzugeben“, betont Görsdorf-Léchevin.

Sie selbst hat Englisch und Französisch für Lehramt studiert und hätte Politische Bildung als Unterrichtsprinzip vermitteln sollen, doch an der Uni hat sie darüber nichts gelernt. „Dabei betrifft uns die EU in so vielen Dingen: Wenn man im Ausland arbeitet, muss man über andere Sozialversicherungen und Pensionszeiten Bescheid wissen, Firmen haben mit Mehrwertsteuersätzen anderer Länder zu tun. Fast jeder hat im Büro Kollegen aus dem Ausland: Von ihnen lernt man mehr als in der Schule.“ Daher plädiert sie für Zusammenarbeit: Juristen, die Gesetze beschließen, sollten mit den betroffenen Bevölkerungsgruppen kommunizieren. „Sonst gehen Entscheidungen am Ziel vorbei.“

Analysiert hat sie Entscheidungsprozesse in einer Einzelfallstudie, der Sommer-Uni Cluny, die jährlich für zehn Tage 50 Studenten (unterschiedlicher Studienrichtungen) aus ganz Europa zusammenbringt. „Ich habe selbst 2004 teilgenommen und 2006 den Kurs wissenschaftlich begleitet – aus Sicht der Erwachsenenbildung.“ Sommeruniversitäten boomen seit Jahren, doch wissenschaftlich hat sich bisher kaum jemand darum gekümmert. In Österreich funktioniert etwa das Forum Alpbach wie eine Sommer-Uni, zudem bieten Unis ihre eigene Sommeruniversität an.

In ihrer Einzelfallstudie vereinte Görsdorf-Léchevin Datenanalysen der Programme seit 2001 mit Fragebögen und Interviews im Jahr 2006. „Hier steht fast nie ein Professor am Katheder, sondern die Studierenden erarbeiten in Gruppenarbeit Vorschläge, die an das französische Bildungsministerium und die EU weitergeleitet werden.“ Genau so, findet Görsdorf-Léchevin, sollte Lernen über die EU funktionieren: Durch den kritischen Umgang mit Themen, dem Austausch zwischen verschiedenen Schichten. Planspiele, Verhandlungstraining, Diskussionsrunden, Open Space: Diese offenen Lernmethoden müssen gefördert werden.

Informelles Lernen unterschätzt

„Informelles Lernen, das nicht nur auf Fachwissen beruht, wird unterschätzt, obwohl man dabei mehr fürs Leben lernt: Bei der Schulsprecherwahl lernen Schüler demokratische Prozesse, bei der Organisation des Maturaballs viel fürs Leben.“ Obwohl die Studenten der Sommer-Uni angaben, ohne Professor und Literaturliste wenig „gelernt“ zu haben, war allen bewusst, dass sie viel „gelernt“ hatten: über die EU, ihre Institutionen und Rechtswege. Für die 500-Seiten-Dissertation, die noch heuer als Buch veröffentlicht werden soll, hat Görsdorf-Léchevin auch europabezogenes Lernen in verschiedenen Schultypen und Ländern analysiert und Vorschläge zur Aus- und Weiterbildung von Lehrern parat.

ZUR PERSON

Elisabeth Maria Görsdorf-Léchevin wurde 1980 in Graz geboren, studierte an der Uni Graz Englisch und Französisch (Lehramt). Nach dem Praktikumsjahr in der HLW Schrödinger kam sie wieder an die Uni, wo sie derzeit bei „treffpunkt sprachen“ Deutschkurse für ausländische Studenten organisiert. Ihr Erasmus-Jahr verbrachte sie in Bordeaux, Frankreich, und lebte ein halbes Jahr in der Slowakei, wo sie Deutsch als Fremdsprache (DAF) vermittelte. Görsdorf-Léchevin ist verheiratet und erwartet im Oktober ihr zweites Kind, danach wird sie weiter an der Uni Graz arbeiten.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 02.08.2014)

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