Über die gehörlose Perkussionistin

Welche Rolle spielt körperliche Behinderung in der Musik? Diese Frage aus den Disability Studies behandelt Anna Benedikt in ihrer Dissertation.

Als erste Musikwissenschaftlerin und Historikerin in Österreich bringt Anna Benedikt in ihrem Dissertationsprojekt die Disability Studies – Studien, die Behinderung als soziale, historische und kulturelle Konstruktion begreifen – in den musikalischen Kontext. Ihr Forschungsfokus: das 20. und 21. Jahrhundert.

In dieser Zeitspanne hat sich der Umgang mit körperlicher Norm und dem, was als abnorm bezeichnet wird, stark verändert. Der Erste Weltkrieg bildete dabei einen besonderen Wendepunkt: „Aufgrund der plötzlichen massenhaften Präsenz von kriegsgeschädigten und invaliden Menschen wandelte sich nach dem Krieg der Blick auf Behinderung“, so Benedikt. In der Mitte ihres Projektes wurde ihr nun das Marietta-Blau-Stipendium des Wissenschaftsministeriums zuerkannt, mit dem Benedikt drei Monate in England (Huddersfield und London) sowie vier Monate in New York forschen wird.

Pianist mit einem Arm

„Die wissenschaftliche Beschäftigung mit Behinderung ist in Großbritannien und den USA etablierter als in anderen Ländern. Dort bildete die ,Independent Living‘-Bewegung der 1970er-Jahre die Basis der Disability Studies, die zu dieser Zeit in anderen Ländern noch fehlte“, sagt Benedikt. Der Forschungsstand sei daher höher als im deutschsprachigen Raum.

Benedikts Dissertation befasst sich mit körperbehinderten Musikern und der Darstellung von Behinderung auf der Bühne. Als Quellen dienen ihr Printmedien und Autobiografien, die Geschichte weist zahlreiche Beispiele auf: Paul Wittgenstein, Bruder des berühmten Philosophen, setzte seine Pianistenkarriere nach einer Kriegsverletzung erfolgreich mit einem Arm fort, die gehörlose Perkussionistin Evelyn Glennie nimmt Schwingungen mit dem ganzen Körper wahr und „hört“ auf diese Weise.

Dem inzwischen weltbekannten Bassbariton Thomas Quasthoff wurde einst das Studium verweigert, weil der contergangeschädigte Künstler die bei der Aufnahmeprüfung verlangte Klavierprüfung nicht absolvieren konnte. Auch mit dieser und anderen rechtlichen Fragestellungen setzt sich Benedikt auseinander. „An den britischen Musikunis gibt es eine eigene Einrichtung zur Unterstützung körperbehinderter Studierender – wie wird das Thema an anderen Unis in Europa und auch in Österreich gehandhabt?“

Inzwischen hat sich der Markt auf die Bedürfnisse körperbehinderter Musiker eingestellt. Neben funktionaleren Prothesen gibt es spezielle Instrumentenbauer und Geschäfte für technisches Musikzubehör. Zwei dieser Firmen wird Benedikt in Großbritannien besuchen, ebenso stehen Interviews mit Mitgliedern des „British Paraorchestra“ auf dem Programm, das aus körperbehinderten Top-Musikern besteht.

Ein Teil ihres Projekts widmet sich rein dem Musiktheater-Schaffen Helmut Oehrings. Der deutsche Komponist hört, seine Muttersprache ist jedoch Gebärdensprache, so fließen beide Elemente in seine Werke ein. Anna Benedikt: „Oehring schafft ein positives Modell von Behinderung. Seine Kompositionen verbinden Welten – er lässt gehörlose Protagonisten sprechen, Sänger müssen gebärden.“

Benedikt will mit ihrer Dissertation eine Forschungslücke schließen und dazu beitragen, dass auch in der Musikausbildung körperliche Variabilität akzeptiert wird. „Wer sagt, dass Wahrnehmung über das Ohr und Ausdruck über den Körper alles ist? Unsere Gesellschaft ist darauf fixiert – dass es Alternativen geben kann, daran wird oft nicht gedacht“, sagt die Musikwissenschaftlerin.

Bis 2016 möchte Benedikt die Doktorarbeit fertigstellen. Danach denkt sie an eine wissenschaftliche Laufbahn, in der sie sich weiter der Verknüpfung von Gender oder Disability Studies mit Musik widmen kann.

ZUR PERSON

Anna Benedikt wurde 1984 in Kärnten geboren und studierte Musikwissenschaft sowie europäische Frauen- und Geschlechtergeschichte in Wien und Nottingham. Seit 2012 ist sie an der Kunstuniversität Graz stellvertretende Leiterin des Zentrums für Genderforschung sowie Universitätsassistentin. In ihrer Dissertation beschäftigt sie sich mit dem Verhältnis von körperlicher Behinderung und Musik im 20. und 21. Jahrhundert.

Alle Beiträge unter:diepresse.com/jungeforschung

("Die Presse", Print-Ausgabe, 18.10.2014)

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