Ein Video zeigt, was in Zellen los ist

Anna Kicheva
Anna Kicheva(c) Die Presse (Clemens Fabry)
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Die Entwicklungsbiologin Anna Kicheva erforscht dynamische Vorgänge in Zellen: Sie studiert Faktoren, die einer Nervenzelle sagen, wofür sie im Körper zuständig ist.

Wie auch im Fußball sind die Besten aus Österreich nicht immer in Österreich geboren. Anna Kicheva hat jedenfalls einen EM-Titel für Nachwuchsforscher nach Österreich geholt: den ERC Starting Grant des europäischen Forschungsrates, dotiert mit 1,5 Millionen Euro. Sie stammt aus Bulgarien und entschied sich früh für eine internationale Karriere. „Mit 20 Jahren bin ich in die USA gezogen und habe am Bennington College in Vermont studiert“, erzählt Kicheva. Das Doktorat machte sie in Deutschland, am Max-Planck-Institut in Dresden und an der Universität Genf in der Schweiz. Als Entwicklungsbiologin will sie stets wissen, wie Wachstum gesteuert wird.

„In Dresden untersuchten wir Faktoren, die bestimmen, wie groß ein Fliegenflügel wird und in welchem Muster die Flügeladern gezeichnet sind: Dies wird von Proteinen geregelt, die Morphogene heißen“, erklärt Kicheva. Was sie an der Drosophila-Fliege gelernt hat, wollte sie in größeren Tieren anwenden: So nahm sie eine Stelle in London an, um am National Institute for Medical Research Morphogene in Mäusen und Hühnern zu erforschen. „Die Entwicklung von Lebewesen ist spannend: Wie funktioniert es, dass aus einer einzigen Zelle ein ganzer Körper wächst?“, so Kicheva.

EM-Titel für Nachwuchsforscher

Einerseits müssen Zellen sich teilen können, andererseits müssen die neu entstehenden Zellen wissen, ob sie eine Leberzelle, eine Hautzelle oder eine Nervenzelle werden. „Wir untersuchen, wie diese Differenzierung in einzelne Zelltypen abläuft. Wer koordiniert, dass ein sich entwickelndes Organ genau die richtige Größe und Form erhält? Die Morphogene sind in diese Entscheidungen involviert“, erklärt Kicheva.

Bereits in London spezialisierte sie sich auf das Nervensystem: Auch hier werden stets Entscheidungen getroffen, ob aus einer frisch geteilten Zelle eher eine Nervenzelle wird, die Informationen von außen aufnimmt, eine, die Informationen weiterleitet, oder eine, die Muskeln und Organe bewegen soll. Und genau dieses Fachwissen brachte Kicheva nach Österreich mit, als sie im November 2015 an das Institute of Science and Technology (IST) Austria berufen wurde.

Kurz darauf wurde ihr einer der zehn ERC Starting Grants zugesprochen, die im Jahr 2015 an Österreich gingen. Kichevas Forschungsgruppe in Klosterneuburg untersucht, wie es möglich ist, dass kleine und große Tiere derselben Art jeweils die richtige Anzahl an Nervenzellen haben. „Die Zahl der Nervenzellen ist abhängig von der Größe“, sagt Kicheva. Eine große Maus hat also mehr Nervenzellen als eine kleine. Es kommt immer auf das richtige Verhältnis an: Eine größere Maus hat genau wie eine kleine einen fixen Prozentsatz an Vorläuferzellen von Motoneuronen, die für Muskelbewegungen zuständig sind, und einen fixen Anteil an Vorläuferzellen von Sensoneuronen, die Sinneseindrücke wahrnehmen. Dieses Prinzip gilt für größere Tiere und Menschen auch.

„Obwohl viel der Laborarbeit Routine ist, macht es mir immer große Freude, wenn wir etwas Neues entdecken. Die Momente, in denen ich nach einem durchgearbeiteten Wochenende voller Datenanalysen plötzlich erkenne, dass ich auf etwas gestoßen bin, werde ich mir immer merken“, sagt Kicheva. Eine ihrer Erkenntnisse war, dass Morphogene nur im Anfangsstadium der Entwicklung die Signalgeber sind. „Hat das Gewebe eine bestimmte Größe erreicht, übernehmen andere Moleküle ihre Aufgabe“, sagt Kicheva. Sie gehört zu den Weltbesten, die zeigen kann, wie sich Morphogene in lebendem Gewebe verändern. Das, was in Zellen passiert, kann nur verstanden werden, wenn man es über die Zeit beobachtet: Einzelne Schnappschüsse der Vorgänge in den Laborschälchen bringen wenig. Besser klappt es mit Live Imaging, quasi einem Videofilm, der die Dynamik des Lebens festhält.

Dynamik des Lebens auch im Privaten

Auch Kicheva selbst hat ein dynamisches Leben, sie pendelt zwischen Wien und Klosterneuburg und genießt Radausflüge auf die Donauinsel. „In meiner Freizeit zeichne ich gern, mit Bleistift und Kohle. Und auf den Spaziergängen durch Wien bewundere ich die Architektur.“

Auf die Frage, ob sie aus Erfahrungen in anderen Ländern gute Ideen nach Österreich brachte, antwortet sie: „In England habe ich bewundert, dass dort viele Leute mit einem biowissenschaftlichen Abschluss nicht einfach in die Pharmaindustrie gehen, sondern in die Politik, oder Journalisten oder Berater werden. Es würde jedem Land guttun, Menschen, die wissenschaftlich denken, in vielen Bereichen der Gesellschaft zu haben.“

ZUR PERSON

Anna Kicheva wurde 1980 in Sofia, Bulgarien, geboren. Nach Studien in den USA, Deutschland und in der Schweiz forschte sie sieben Jahre in London. Im November zog Kicheva nach Österreich: Am IST Austria leitet sie Forschungen über das Wachstum von Gewebe. „Die Interdisziplinarität auf dem Campus passt perfekt: Für meine Arbeit brauche ich den engen Kontakt zu Mathematikern, Physikern, Neurowissenschaftlern und Biologen“, sagt Kicheva.

Alle Beiträge unter:diepresse.com/jungeforschung

("Die Presse", Print-Ausgabe, 11.06.2016)

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